Meine Großmutter ist sicher in den Himmel gekommen. Für mich darf ich nichts dergleichen erhoffen. Um in den Himmel zu kommen, muss man seine ungesunden Gedanken loswerden …
Durch einen Fensterspalt meines Dienstzimmers kommt dieser eigenartige Wind, der nach Schnee riecht und Fernweh erzeugt. Kalter Föhn. Was ist aus Streber geworden? Mein Blick saugt sich an dem Balkon gegenüber fest, wo der alte Mann stehen sollte, von dem Streber behauptet hatte, er sei sein Vater. Jetzt schaut der Balkon aus, als ob er geschlossen wäre. Ein Balkon kann nicht geschlossen sein. Dennoch schaut er so aus, verlassen, vernagelt, mit dem schwarzen, nach hinten versetzten Türglas, in dem sich nichts spiegelt und durch das kein Licht zu sehen ist.
Ich zwinge mich, meine Konzentration auf die gerade vor mir liegende Klausurarbeit zu richten. Die Schreiberin behauptet, Platon sei ein MCP gewesen, ein »Male Chauvinist Pig«. Das wird in den Wiederholungsterminen selten behauptet. Solche Aussagen sind den Hochambitionierten vorbehalten, die ihre Klausuren gleich im ersten Termin schreiben. Vor mir liegt offenbar das Zeugnis einer verspäteten Ambition. Die Höhle sei ja, so die Autorin, unschwer als Uterus zu entschlüsseln. Und so bringe Platon die ganze Weiblichkeit auf den einen männlichen Punkt: Das alles sei falscher Schein, Lüge, eine Art Tod. Darüber hinaus zeigt die Autorin, dass sie in der Metapherngeschichte bewandert ist. Das Licht bei Platon, dieses grelle und dabei buchstäblich abstrakte Licht der Ideen, sei dasselbe wie jenes der Aufklärung, des lumières : durch und durch männlich. Deshalb, so die Autorin, habe die französische Feministin Luce Irigaray zu Recht den Sexismus hervorgehoben, der in der Behauptung stecke, im Universum sei nichts schneller als das Licht – eine Behauptung, so die Autorin, die durch neueste Forschungen bereits widerlegt sei, Stichwort »quantenmechanische Tunnelung«. Kein Zweifel, denke ich, das ist eine Arbeit, die mit »sehr gut« zu benoten ist, und dabei will mir nicht aus dem Kopf, dass die Dunkelheit auf dem Balkon gegenüber sehr gut zu der Vorstellung passt, Platons Höhle sei nichts Außergewöhnliches, sondern überall vorzufinden in dieser dunklen Welt, jedenfalls für den geübten, den halbwegs erleuchteten Blick.
Und während ich eine »1« unter die Klausurarbeit setze, samt der Bemerkung »souveräne Stoffbeherrschung, couragierte Durchführung«, spüre ich in mir das Verlangen, in das Haus gegenüber, wo der alte Mann wohnt, zu gehen.
Und natürlich gehe ich nicht.
Aber dann, nachts, habe ich einen Traum. Ich gehe in das Haus gegenüber, vier Stockwerke hinauf. Schon am letzten Treppenabsatz versuche ich, die Türschilder zu entziffern. Ich trete näher, das erste Schild, das zweite. Beide Schilder sind unbeschriftet. Aha, denke ich im Traum, das ist ein Traum. Aber dann stehe ich vor der dritten Tür mit dem dritten Schild, und darauf steht: »Streber«. Im selben Moment stürze ich bereits durch die Türe, seltsamerweise, wie mir durch den Kopf schießt, weil ich nach draußen will, ins Licht. Drinnen aber ist es dunkel und aus dem Dunkel begrüßt mich eine Stimme: »Mein Name ist Streber, ich habe Sie schon erwartet.«
»Entschuldigung, dass ich mit der Tür ins Haus falle«, sage ich und bin erstaunt, dass mir in dieser Situation nichts weiter einfällt als eine Höflichkeitsfloskel. Und plötzlich, zusammenhanglos, habe ich den ekstatischen Eindruck, ich verstünde jetzt mehr vom Sterben, als ich bei allen meinen Todesmeditationen jemals zu fassen bekam. Man macht kein Aufheben, verhält sich höflich. Das war’s. Nachdem ich mich beruhigt habe, schaue ich mich um, aber ich sehe kaum etwas. Jalousien heruntergelassen, Vorhänge zugezogen. Doch als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, beginne ich die Umrisse der Tür zu sehen, die zum Balkon hinausführt, und auch, dass nichts vor den Fenstern hängt, keine Jalousie, kein Vorhang. Das ist unheimlich. Denn draußen, bilde ich mir ein, ist heller Tag. Zugleich spitzt sich in meinem Kopf ein Gedanke zu: Wo eigentlich ist hier draußen?
»Ich habe Sie erwartet«, sagt die Stimme, die, wie ich nun sehe, zu einem alten Mann gehört, der regungslos auf einem Sessel sitzt, neben einem Tisch, der vollkommen abgeräumt ist. Will der alte Mann weggehen? Und ist das derselbe Mann, den ich so oft beobachtete, wie er auf dem Balkon stand und, ins Licht blickend, seinen Hals puppenhaft hin und her bewegte, als ob er – ja, was eigentlich? Da fällt mir plötzlich ein: – als ob er blind wäre! »Ich bin blind«, sagt die Stimme, die offenbar zu dem alten Mann gehört, »doch Sie brauchen sich deshalb nicht zu beunruhigen. Was mich betrifft, so sehe ich genug, mehr als genug.«
Das hier ist eine Travestie, denke ich, der blinde alte Mann, der mehr als genug sieht, und die Dunkelheit herinnen und draußen, die Dunkelheit überall hier und jetzt, obwohl doch heller Tag ist und die Fenster nicht verhängt sind. Das hier ist eine Travestie des platonischen Höhlengleichnisses, nicht wahr? »Vielleicht«, sagt die Stimme, die vom alten Mann herkommt, »machen sich die Menschen, besonders die Philosophen, falsche Gedanken über das Blindsein. Ich meine das Blindsein, das jeden betrifft …« Aha, denke ich, das ist der Beweis: Der alte Mann redet in billigen Metaphern, er ist gar nicht wirklich blind, seine Blindheit ist ein Symbol, so wie Platons Höhle ein Symbol ist für die Blindheit der Menschen, egal, ob sie sehen wie die scharfsichtigen Luchse oder kurzsichtig sind wie die sprichwörtlich blinden Hühner.
»… das jeden betrifft«, sagt der alte Mann, den Streber als seinen Vater benannte, »und glauben Sie bloß nicht, dass ich in billigen Metaphern rede. Ich habe auf Sie gewartet, treten Sie auf den Balkon!« Aha, denke ich, das ist wie in Platons Höhle: Ist man erst ins Freie entkommen und betrachtet die Sonne mit ungeschütztem Auge, dann erblindet man. Statt nun aber den alten Mann zu fragen, ob er mit ungeschützten Augen zu lange in die Sonne geblickt habe, frage ich ihn geradeheraus (mein Verlangen nach Faktizität, nach einem festen Boden unter den Füßen treibt mich an), ob er der Vater von Streber sei.
Da passiert etwas, das mir nur deshalb nicht mein Traumherz stillstehen lässt, weil ich bereits davon überzeugt bin, in einem abschüssigen Traum zu agieren. Die Stimme, die von dem alten Mann herzukommen schien, hat sich von ihm abgelöst; sie kommt nun aus der Richtung des Balkons, sie ist sanft geworden, lockend; sie sagt: »Kommen Sie, dann werden Sie es wissen.«
Es ist das förmliche »Sie«, das mich davon abhält, besinnungslos nach hinten Reißaus zu nehmen. Immerhin, auch wenn ich gerade dabei bin, im Wahnsinn zu versinken, es gilt die eine oder andere Konvention. Und so zwinge ich mich, einige Schritte in Richtung des alten Mannes zu machen, der noch immer reglos dasitzt, nach vorne geneigt, mit einem Ellbogen auf den abgeräumten Tisch gestützt. Jetzt kann ich sein Gesicht sehen, und jetzt sehe ich, dass der alte Mann tot ist.
Nein, nicht einfach tot. Sein Schädel ist, das sehe ich als schwaches Leuchten durch die Dunkelheit hindurch, mumifiziert. Die Haut, die sich über seine Gesichtsknochen spannt, hat das Aussehen von hauchdünnem, brüchigem Pergament. Dieser alte Mann ist tausend Jahre tot, zweitausend, dreitausend Jahre oder schon seit Anbeginn der Zeiten. Er könnte Platon sein oder der Priester eines Pharaos oder – ungesunder Gedanke! – der erste Mensch, in Gedanken versunken.
»Kommen Sie«, sagt die Stimme vom Balkon her. Nun hat die Mechanik des Traums vollends von mir Besitz ergriffen. Ich gehe nicht auf den Balkon, ich werde gegangen, und während von der Straße die Geräusche des Tages zu mir heraufdringen, liegt über allem ein Zwielicht ohne Licht, eine Finsternis, die aus den Dingen zu sickern scheint.
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