Wenn über Hass im Netz debattiert wird, stehen stets die untersten Ebenen des Graham-Modells im Fokus. Persönliche Attacken und Entgleisungen sollen unterbunden werden. Jetzt ist es dringend notwendig, dass wir unseren Blick auf die höhergelegenen Stufen richten. Die entscheidende Frage ist, wie erreicht werden kann, dass mehr Menschen in Online-Gesprächen auf sachlicher Ebene diskutieren und mit entsprechender Aufmerksamkeit für Argumente belohnt werden.
Aufmerksamkeit für Konstruktives
Seit gut einem Vierteljahrhundert durchdringt das Internet immer größere Bereiche unseres Lebens. Ein wesentlicher Teil der gesellschaftlichen Kommunikation findet im virtuellen Raum statt. Online-Diskussionen wirken sich auf die Meinungsbildung vieler aus und haben entscheidenden Einfluss auf unser reales Leben. Zurecht wird auf destruktives Verhalten im Netz verwiesen, das die Kommunikation stört, Meinungen verzerrt und negative Konsequenzen im gesellschaftlichen Miteinander nach sich zieht.
Die Debatte über Hass im Netz leidet jedoch darunter, dass voreilig falsche Schlüsse gezogen werden und damit relativ einfach anmutende Lösungen angestrebt werden, die nicht wirksam sein können.
Digitale Masken, also die Verwendung von Pseudonymen im Internet, sind nicht die zentrale Ursache für destruktives Verhalten. Es erzeugt Unbehagen, wenn wir nicht genau wissen, mit wem wir es in Online-Diskussionen zu tun haben, das ist richtig. Eine Echtnamenpflicht, wie auch immer sie ausgestaltet ist, stellt keine geeignete Lösung dar. Sie führt nicht zu wesentlich zivilisierterem Verhalten und sie mindert nicht das Unbehagen, das von einem Online-Gegenüber ausgeht.
Wir brauchen ein digitales Ich, das für soziale Selbstkontrolle im Netz sorgt. Eine Repräsentation für Menschen im virtuellen Raum, die eine Einschätzung durch andere erlaubt und somit Sicherheit gibt. Ein Echtname ist zu wenig, genauso wie ein Pseudonym. Das digitale Ich muss verschiedene Eigenschaften einer Person möglichst einfach erkennen lassen und eine Einordnung erlauben.
Bei einer Begegnung in einem physischen Raum, zum Beispiel im Kaffeehaus, ist es auch nicht notwendig, den bürgerlichen Namen des Gegenübers zu kennen. Viel entscheidender ist es, andere Kontextinformationen zu erhalten. Im Kaffeehaus sind das die äußere Erscheinung, die Gestik und Mimik, die Stimme, Gerüche und andere Dinge, die wir nebenbei wahrnehmen. Solche zusätzlichen Signale erlauben uns eine bessere Einschätzung für die verbalen Äußerungen anderer Menschen.
In der virtuellen Sphäre lassen sich manche dieser Kontextinformationen schwer herstellen. Es ist jedoch durchaus möglich, ein digitales Ich facettenreicher auszugestalten, als das bisher oft geschieht (s. mehr dazu in Kapitel 5). Wenn ich mich selbst besser im Netz erkenne, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass meine soziale Selbstkontrolle einsetzt. Und mein Gegenüber, das mehr Details von mir wahrnimmt, wird eher Vertrauen aufbauen können.
Hass im Netz gibt es und wird es immer geben. Es wäre auch völlig absurd, das Gefühl einer negativen Ablehnung, das zum Leben gehört wie die Liebe, verbieten zu wollen. Blinder Hass kann jedoch auch Schaden für andere anrichten und es ist ein ehrenwertes Ziel, diesen zu minimieren. Die Verhinderung großer Eskalationen mit massiven Beeinträchtigungen für Opfer ist selbstverständlich wichtig, Polizei und Gerichte sollen auch im virtuellen Raum gegen Rechtsverletzungen vorgehen können.
Der mediale und gesellschaftliche Diskurs zu Hass im Netz wird jedoch nicht dazu führen, dass Aggression und destruktives Verhalten aus dem virtuellen Leben verschwinden. Im Gegenteil, wir übersehen durch dieses Framing vollkommen, dass der überwiegende Teil der Online-Kommunikation zivilisiert abläuft und durchaus relevante Äußerungen in der Sache getätigt werden. Der falsche Fokus auf negative Phänomene verstellt nicht nur die Sicht, er wirkt wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: Persönliche Attacken landen in der Auslage, bekommen Aufmerksamkeit, differenzierte, sachliche Beiträge gehen unter.
Wir müssen den Fokus der Debatte verschieben und den Scheinwerfer endlich auf Konstruktives lenken. Soziales Verhalten in der virtuellen Welt kann nicht erzwungen, wohl aber belohnt werden. Wer auf Argumente zurückgreift, persönliche Einschätzungen teilt, neue Aspekte in eine Online-Diskussion einbringt, verdient größere Aufmerksamkeit. Konstruktive Beiträge gehören in die Auslage, damit sich viele ein Beispiel daran nehmen.
Was ist also zu tun, damit Debatten im Internet besser werden? Erstens braucht es eine Stärkung des digitalen Ichs und zweitens müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf konstruktive Beiträge lenken.
2. Warum Anonymität wichtig ist
Hinweis auf Tatmotiv im Forum
11. April 2017: Bei einem Angriff auf den Mannschaftsbus des deutschen Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund (BVB) kommt es zu drei Explosionen, der Spieler Marc Bartra und ein Polizist werden verletzt. Der Anschlag versetzt die Fußballer in Schockstarre und Menschen, die davon hören, in Unruhe. Zunächst sind die Hintergründe unklar, am nächsten Tag wird ein mutmaßlicher Islamist festgenommen. Ein Terroranschlag aus fundamentalistischen Motiven gilt als wahrscheinlich.
Zehn Tage später rückt plötzlich entgegen aller Erwartung das Motiv Börsenspekulation ins Zentrum, der mutmaßliche Täter Sergej W. wird festgenommen. Wie kam es zu dieser überraschenden Wende?
Am 12. April, also einen Tag nach dem Anschlag, postete »Jerusalem« im Forum des österreichischen Onlinemediums DER STANDARD:

Auch die Börsenredaktion des ARD erwähnte bereits an diesem Tag, dass es auffällige Transaktionen mit Optionsscheinen gab, bei denen auf einen extremen Kursabsturz spekuliert worden sein könnte. Dieser Hinweis stammte ebenfalls von »Jerusalem«, einem BVB-Anhänger aus Österreich.
Der Fußballfan, der gut mit den Abläufen an der Börse vertraut und außerdem Borussia-Dortmund-Aktionär ist, hat bereits Stunden vor dem Anschlag, als er den Kurs seiner eigenen Scheine kontrollierte, eine ungewöhnliche Transaktion in Frankfurt entdeckt: Dort wurden 15.000 Stück Put-Optionen gekauft, obwohl diese sonst nur in Stuttgart gehandelt werden. Im Moment des Angriffs auf seinen geliebten Verein BVB tritt jedoch die Sorge um die Mannschaft in den Vordergrund.
In der folgenden Nacht kann der Mann nicht gut schlafen, die seltsame Börsentransaktion kommt ihm wieder in den Sinn. Am Morgen entdeckt er, dass am Vortag nicht nur 15.000, sondern vier verschiedene Typen mit je 15.000 Stück gehandelt wurden. Mit dem Wissen des Angriffs auf den Mannschaftsbus denkt er jetzt an einen Trittbrettfahrer, der die Anschlagspläne kannte und dieses Wissen zu Geld machen wollte. Sprich: Bei einem starken rapiden Fall der Kurse hätte der Käufer einen hohen Gewinn erzielt. Aus dem Einsatz von 26.000 Euro wären 622.000 Euro geworden, wenn der Anschlag verheerend ausgegangen und die BVB-Aktie auf null abgestürzt wäre.
»Jerusalem« überlegt sich, wie er Aufmerksamkeit für die Börsentransaktionen schaffen kann, denn er hofft, dass über den Trittbrettfahrer der tatsächliche Täter ausgeforscht werden kann. Später erzählt er in einem STANDARD-Artikel4: »Mir war bewusst, dass es sehr schwierig sein wird, diesen irrationalen Nebenschauplatz ins Zentrum des Geschehens zu rücken. Gesucht wurden Islamisten und Terroristen, da bleibt wenig Platz für ein paar gehandelte Optionsscheine [...] Ich rief also bei der Soko BVB an und versuchte, die Auffälligkeit zu erklären. Sicherheitshalber wollte ich mehr Aufmerksamkeit schaffen: Ich postete beim STANDARD, da ich dort eine interessierte Leserschaft vermutete, schrieb dem BVB und telefonierte mit ARD-Börse. Diese brachte bereits am Nachmittag einen Onlinebericht über die Optionsscheine. Ziel erreicht: Öffentlichkeit informiert!«
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