Inhaltsverzeichnis
– I –
BLAUES BLUT
– II –
EIN FREIHERR ALS RICHTER
– III –
DAS RICHTERAMT
– IV –
EIN HAI IM FISCHBECKEN
– V –
ALENA
– VI –
DER ABSTURZ
– VII –
DER SCHWANZ DES TEUFELS
– VIII –
DER BÜßER UND SEIN BEICHTVATER
– IX –
NEUE BESEN KEHREN GUT
– X –
POST IM ADVENT
– XI –
IM STILLEN WEINGARTEN
– XII –
UNTERSUCHUNGSHAFT
– XIII –
ZU GRÖßEREM BESTIMMT
– XiV –
EIN ALTER FEIND
– XV –
DER PROZESS
– XVI –
DER LOKALAUGENSCHEIN
– XVII –
WIE MAN SICH ERSCHIESST
EPILOG
Prim. i. R. Med. Rat. Prof. Dr. Dietmar Steinbrenner
Copyright
Narzissten werden nicht geboren, sondern gemacht!
Narzissten leiden an Empathiemangel, neigen zu
Übertreibungen, Lügen, Täuschung und Selbsttäuschung.
Mit Kritik und Zurückweisung können sie nicht umgehen,
fallen dann entweder in Depression oder werden aggressiv.
Sie sind überheblich, arrogant und ausbeuterisch anderen gegenüber.
Pathologische Narzissten können dadurch
sogar zu Mördern werden.
Bei der Lektüre dieses Buches werden Sie auf einen
pathologischen Narzissten stoßen, dessen Kindheit ihn
zu dem gemacht hatte, was er war, denn er wurde nicht
als Narzisst geboren.
Etwas stimmte nicht mit dem dicklichen Mann, der Ende November 1983 das Eiles betrat, seinen Hut abnahm und kurz innehielt. Der seine Augenlider fest aufeinander presste und den abgestandenen Zigarrenrauch tief einatmete, so als hätte er seit einer Ewigkeit keinen richtigen Atemzug mehr genommen. Der sich kurz in dem Wiener Caféhaus umsah und jedes Möbelstück und selbst die Rauchschwaden ungewöhnlich lange musterte, wie um sich zu vergewissern, dass er nicht in eine andere Dimension abgerutscht war. Herrn Karl fiel es sofort auf, dass da irgendetwas nicht stimmte. Er kannte den Stammgast schon seit Jahren, er kam regelmäßig ins Eiles, setzte sich immer an den gleichen Tisch und bestellte immer das Gleiche: ein Glas Sherry Oloroso. Normalerweise war der Mann immer sehr zielstrebig und gefasst. An diesem Morgen sah er zum ersten Mal so aus, als würde er möglicherweise einen Doppelten bestellen. Der Mann nickte ihm kurz zu, marschierte direkt zu seinem Stammtisch in einer Ecke des Cafés, setzte sich seufzend nieder, lockerte seine Krawatte und fuhr sich über den kahlen Kopf. Auch das machte Herrn Karl stutzig, so viel Emotion hatte der Mann in all den Jahren noch nie gezeigt. Normalerweise wartete Herr Karl immer ein paar Minuten, manchmal auch zehn, bevor er die Bestellungen von neuen Gästen aufnahm. Er wollte sie ankommen lassen und nicht sofort belästigen. Das Eiles war schließlich keine Rennbahn und schon gar kein Wirtshaus. Diesmal ging er aber gleich zu seinem Gast, sah er doch so durstig aus.
„Schwere Nacht gestern? Das Gleiche wie immer?“, fragte er lapidar. Die prompte Bedienung schien den blassen Mann, der sich gerade mit geschlossenen Augen die Schläfen rieb, zu überraschen. Er schrak hoch und lächelte unsicher.
„Was? Nein. Also, ja. Einen Oloroso bitte.“
Herr Karl nickte so ausführlich, dass er sich fast verbeugte. Der Mann sah etwas ungepflegter aus als sonst. Auch das war untypisch. Auf dem Revers seines Sakkos konnte Herr Karl einen eigenartigen Fleck erkennen.
„Einen Doppelten?“, wollte er sich empathisch zeigen.
„Nein danke.“
Der Kellner nickte und ging wieder Richtung Theke. Hätte Herr Karl die Gedanken dieses Mannes lesen können, hätte er die Gründe für dessen fahriges Verhalten gewusst, wer weiß, hätte er an diesem Abend nachgebohrt, den Mann genauer unter die Lupe genommen, vielleicht hätte er vielen Menschen einiges an Kopfschmerzen erspart. Aber das kam ihm gar nicht in den Sinn. Wo kämen wir da hin, wenn sich ein anständiger Bürger in einem Wiener Caféhaus nicht mehr entspannen kann?
So saß der blasse Mann wenig später mit einem Glas Sherry Oloroso in der Hand da, starrte aus dem mit schweren, vergilbten Vorhängen verhangenen Fenster neben seinem Tisch auf das Schneetreiben hinaus und wälzte seine Gedanken. War er zu weit gegangen? Nein, sein ganzes Leben lang hatte er sich gegenüber niederträchtigen Neidern und gemeinem Gesindel behaupten müssen. Damit war jetzt Schluss, ab jetzt würde ihm niemand mehr streitig machen, was ihm zustand. Dafür hatte er gesorgt. Er hatte dafür sorgen müssen! Hätten sie ihn nicht alle so weit getrieben, hätten sie ihn nicht bis zum Letzten herausgefordert, dann hätte es gar nicht erst soweit kommen müssen.
Viele Menschen haben nach den Ereignissen in den Jahren 1983 und 1984 versucht, diesen blassen Mann besser zu verstehen. Doch um zu verstehen, wie es dazu kam, dass er an diesem verschneiten Dezembertag im Eiles saß, musste man zuerst Hildegard Chvala verstehen. Sie war gerade zwanzig Jahre alt gewesen, als sie nach dem zweiten Weltkrieg eine Stelle als Schreibkraft am Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien ergattert hatte. Nach ihrem Abschluss an einer für ihren Geschmack zweitklassigen Handelsschule und einer kurzen Zeit als Angestellte bei einer Großhandelsfirma hätte sie auch eine Stelle als Sekretärin in einer beliebigen Wiener Anwaltskanzlei als einen Aufstieg empfunden, aber der Justizpalast war für sie wie ein Lottogewinn. Sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben wohl. Sie fühlte sich, als wäre sie endlich angekommen. Ihr Vater, der selbst Vorarbeiter in einer Weberei war, war damals sehr stolz auf sie.
„Du brauchst etwas Sicheres“, hatte er immer gesagt, „schau doch, dass du zum Staat kommst.“
Nun hatte sie seinen Wunsch erfüllt, und dementsprechend groß war seine Freude, als Hildegard ihm strahlend von ihrem neuen Arbeitsplatz erzählte. Aber die Sicherheit und die gute Bezahlung, die Beamten damals zugutekamen, waren für sie zweitrangig. Für sie war diese Stelle mehr als das. Hildegard hatte sich in ihrem Leben schon immer fehl am Platz gefühlt. Die ärmlichen Verhältnisse, in denen sie mit ihren Eltern und Großeltern aufgewachsen war, hatten in ihr schon früh ein Verlangen nach mehr geweckt. Ihr neuer Arbeitsplatz bei Gericht bestätigte nur, was sie schon immer von sich gedacht hatte: Hildegard war zu Besserem bestimmt. Sie fühlte sich wohl, wenn sie am Morgen die Stufen zum Haupteingang des Justizpalastes hinaufschritt, vorbei an den zwei gewaltigen, steinernen Löwen, hinein in die riesige, marmorgetäfelte Eingangshalle. Schon das erste Mal, als Hildegard die prächtige Statue der Justitia sah, die in der großen Halle am Kopf einer massiven Treppe thronte, fühlte sie sich zu der steinernen Göttin der Gerechtigkeit hingezogen. Das ganze Gebäude strotzte vor Macht und Größe, und genau hier gehörte Hildegard Chvala hin. Sie wurde mit Begeisterung ein Teil der Gerichtsmaschinerie, in der täglich über die Klagen dutzender ihrer Mitmenschen verfügt wurde. Und dabei spielte sie eine wesentliche Rolle. Damit der Gerechtigkeit täglich genüge getan werden konnte, brauchte es damals ein regelrechtes Heer an Stenografinnen und Maschinschreiberinnen. Sie tippten Reinschriften, sorgten für ordentlich geführte Akten, erledigten den Schriftverkehr, führten Verhandlungskalender, kurzum: Sie hielten den gesamten Apparat am Laufen. Hildegard nahm ihre Aufgabe sehr ernst, und so wurde sie rasch zu einer geschätzten Hilfskraft am Landesgericht. Die Anerkennung, die ihr die wichtigen Herren Anwälte und Richter für ihre akribische Arbeit erbrachten, schmeichelte ihr. Noch mehr aber genoss sie die Ehrfurcht, die ihr die normalen Bürger in den Hallen der Justitia entgegenbrachten. Wenn sie sicheren Schrittes durch die Gänge marschierte, konnte sie die Beklommenheit in den Gesichtern der Wartenden sehen und fast spüren. Hier wurde über die Klagen der Menschen entschieden, ja geurteilt! Und Hildegard war ein Teil dieses Urteilsprozesses. Sie hatte es mit zwanzig Jahren zur erhabenen Amtsperson geschafft.
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