Er räusperte sich verlegen.
„Grüß Gott, ich bin hier, um mich einzuschreiben. Für Rechtswissenschaften“, verkündete er feierlich.
Die Gottesanbeterin sah ihn ungläubig an. „Ja ist schon recht, aber da müssen Sie bitte draußen auf dem Gang hinter den anderen Platz nehmen. Sie werden dann aufgerufen.“
Sie hob den rechten Zeigefinger, ohne die Hand von der Tastatur zu nehmen, und deutete auf den Gang hinaus.
Franz senkte den Kopf und verließ das Sekretariat. Tatsächlich warteten fünf angehende Studenten auf ordentlich aufgereihten Stühlen vor dem Zimmer auf dem Gang. Er war so zielstrebig gewesen, er hatte sie gar nicht bemerkt.
„Tür!“, zischte die Insektenfrau hinter ihm.
Er schloss die Tür behutsam, ging schweigend an den anderen vorbei und setzte sich auf einen der hellbraunen, stoffbezogenen Sessel.
„Ganz schön grantig, die Gute. Nicht wahr?“, raunte sein Sitznachbar.
Franz sah verlegen zu ihm auf. Sein Nachbar hatte dunkelbraune, kinnlange Haare, die gar nicht zu seinem kantigen Gesicht passten.
„Ja, sie scheint etwas ungehalten“, erwiderte er und lächelte gequält.
„Naja, sie sitzt den ganzen Tag hier in dieser Kammer, da muss man ja schlechte Stimmung haben“, sinnierte der Bursche weiter.
Nach einer kurzen Pause beugte er seinen Kopf näher zu Franz, woraufhin dieser etwas zurückwich.
„Wahrscheinlich ist sie einfach unbefriedigt“, raunte er leise.
Franz wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
„Du weißt schon“, der Bursche bewegte zwei Finger in der Luft, als würde er etwas reiben.
Franz sah auf den Boden. „Nein, ich weiß nicht.“
Ihm war nicht klar, wovon sein Sitznachbar sprach, aber er hatte keine Lust mehr, weiter mit ihm zu reden.
„Ungeöltes Getriebe quietscht eben.“
Der kantige Mann lachte leise und klopfte Franz auf die Schulter, der reflexartig zusammenzuckte und den Fremden zornig ansah.
„Das ist wohl wirklich nicht passend. Und lustig ist es auch nicht. Lassen Sie mich in Frieden.“
Die Situation war ihm peinlich, er kannte diesen Mann doch gar nicht. Was, wenn den unverschämten Herren am Ende noch jemand hörte? Der Sitznachbar setzte mit einem Grinsen im Gesicht zur nächsten Bemerkung an, da unterbrach ihn Franz scharf. „Jetzt ist es wirklich genug.“
Der Fremde sah ihn kurz stutzig an, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. Das hatte sich Franz anders vorgestellt. Zuerst beflegelt und dann noch vulgär angeredet, und das in der Ausbildungsstätte für die Richter und Anwälte des Landes. Als er später nach Hause kam und seine Mutter am Fauteuil sitzend und lesend im Wohnzimmer antraf, erzählte er ihr nichts von diesen Enttäuschungen. Er erzählte ihr, er sei mit offenen Armen empfangen worden und hätte gleich Freunde gemacht.
Im Laufe des Studiums wurde es für Franz-Josef nicht leichter, was seine Mitmenschen anging. Er fand keinen richtigen Zugang zu seinen Kommilitonen. Die meisten empfand er als frech, vorlaut und grob. Die Fakultät für Rechtswissenschaften hätte man damals nicht gerade einen Hafen für revolutionäres Gedankengut genannt. In diesem Umfeld stellten junge Männer die Welt ihrer Väter kaum in Frage, eher versuchten sie den Familienoberhäuptern nachzueifern. Frauen waren in der Minderheit. Die wenigen Studentinnen, die durch die Gänge der Universität spazierten, trugen Rock und Bluse und wurden den ganzen Tag lang von ihren männlichen Kollegen angeflirtet. Von Studentenprotesten war nichts zu spüren, eher wollten die angehenden Anwälte möglichst schnell zu einem Abschluss kommen, um ihre eigene Karriere starten zu können. Und doch, selbst in dieser konservativen Umgebung stach Franz-Josef hervor. Er gab sich immer etwas zu korrekt, was seine Altersgenossen unter Spaß verstanden, waren für ihn ungehobelte Frechheiten und billiger Gossenhumor. Wenig überraschend kam sein geziertes Gehabe bei anderen jungen Studenten nicht sonderlich gut an. Dazu kam, dass er aussah, als wäre er direkt vom Hof des letzten Kaisers angereist. Hut, Schal, Mantel und Aktentasche hatte er immer bei sich. Sein blasses, rundliches Gesicht wirkte durch seine dicke Hornbrille noch runder. Obwohl er keine Freunde hatte, war er doch schnell jedem seiner Studienkollegen ein Begriff. Sie vermuteten in ihm einen eitlen, besserwisserischen Snob, der sich zu gut für ihresgleichen war. In seinen Augen strahlte er Unnahbarkeit und Überlegenheit aus, weswegen es ihm auch kaum etwas ausmachte, dass ihn Gleichaltrige mieden.
Das erste Jahr ging vorbei, und Franz-Josef hatte sich an der Universität gut eingelebt. Mit seinen Abgaben war er stets pünktlich, bei Vorlesungen war er strebsam und wach. Klubs oder studentischen Vereinigungen blieb er bewusst fern, bei abendlichen Trinkgelagen traf man ihn nie an. Hochmütig blieb er der stolze Außenseiter, schloss keine Freundschaften und litt heimlich unter dem Spitznamen, den man ihm bald verpasste: Franzpepi, die jungfräuliche Greisin. Er tröstete sich damit, dass diese gemeine Verballhornung nur die Erfindung neidischer Proleten sein konnte, denen sein schöner Adelsname ein Dorn im Auge war. Seine Apanage besserte er durch Nachhilfe für Studienversager auf, von denen es genügend gab. Auch die besten seiner Kollegen waren im Vergleich zu ihm höchstens mittelmäßig, und so gab es für ihn immer jemanden zu unterrichten. Mit dem verdienten Geld legte sich Franz-Josef eine Pfeife zu, weil er fand, dass sein rundes Kinn dadurch markanter wirkte. Aber bald verleideten ihm der Tabaksaft im Mund und an den Fingern sowie das ständige Putzen der Pfeife diesen Genuss. Er fand Ersatz im Rauchen von Zigarren, die er sich meist am Abend genehmigte. An Wochentagen rauchte er die preiswerte, heimische Marke Großglockner, und zu besonderen Anlässen wie etwa dem Namenstag seiner Mutter gönnte er sich kubanische Romeo y Julieta. Dazu trank er anfangs, wenn er zuhause in seinem Fauteuil saß, Cognac oder Whisky, hatte aber anschließend immer schreckliches Kopfweh und beließ es schließlich bei einem abendlichen Glas Sherry Oloroso. Grundsätzlich ging es Franz-Josef gut mit diesem Lebenswandel, er war auf bestem Wege, das Jus-Studium in Rekordzeit zu absolvieren. Und doch nagte immer wieder etwas an ihm, wurmten sich nicht zu unterdrückende Bedürfnisse in seine Gedankengänge. Es war an einem lauen Sommerabend 1964, als diese Regungen wieder in seinem Bewusstsein an die Oberfläche kamen. Er saß zuhause in seinem Zimmer und hatte Auszüge aus dem Strafgesetzbuch vor sich auf dem Tisch liegen, daneben ein Glas mit etwas Oloroso und in einem Aschenbecher eine Großglockner. Er hatte die Texte bereits die letzten zwei Stunden studiert und seine Gedanken begannen abzuschweifen. Wenige Tage zuvor war ihm eine Studienkollegin aufgefallen. Zuerst war sie ihm furchtbar auf die Nerven gegangen, weil sie während einer Vorlesung direkt vor ihm gesessen war und ununterbrochen mit ihrer Sitznachbarin getratscht hatte. Er wollte gerade etwas sagen, als sie sich zu ihrer Nachbarin beugte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Dabei war sein Blick auf ihre beträchtliche Oberweite gefallen. Aus seinem Blickwinkel spannte sich die weiße Bluse der jungen Dame gerade so, dass Franz-Josef für einen kurzen Moment die nackte Haut unter dem Gewand ausmachen hatte können. Dieses Bild hatte ihn verstummen lassen, da war der Moment auch schon wieder vorbei und sie hatte sich wieder dem Vortragenden zugewandt. Aber der Anblick ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. So sehr er auch versuchte, keine frivolen Gedanken zuzulassen, konnte er sich doch nicht helfen. Er rieb sich die Augen und versuchte das Bild des Busens aus seinem Kopf zu verbannen. Was für ein Flittchen dieses Mädchen doch sein musste. Auf so etwas musste eine Dame doch achten, das durfte nicht passieren. Er griff nach der Flasche Sherry, füllte das Glas halb voll und trank es in einem Zug aus. Dann stand er abrupt auf, sammelte sein Portemonnaie und seine Taschenuhr ein, ging in den Vorraum und zog sich seinen Burberry Mantel über, nahm seinen Hut und hatte die Hand schon auf der Türklinke, als er aus dem Wohnzimmer die Stimme seiner Mutter hörte.
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