JÜRGEN LÖHLE
KURIOSE GESCHICHTEN VON DER TOUR DE FRANCE
Prolog
Auf der Straße
Die Anarchie der Gründertage
Falscher Bart und falsche Brille
Sekundenspiele
Um die Tour zu ärgern – die DDR verschiebt die Friedensfahrt 1987
Von Bussen und Bögen
Die verrückten Fans der Tour
Dichter Verkehr – Chris Froome rennt zu Fuß
In den Bergen
„Ihr elenden Mörder“
Treten, bis … ja, bis wer kommt?
Immer höher
Tiefe Stürze
Der Berg der Holländer
Der Letzte als Erster
Fair Play in den Rampen
Ullrichs Abgang über den Lenker
Das Wetter
Regeln, Taktik und viel Geld
Die Crux mit den Regeln
Die Rebellion der Pélissiers
Der Ärger mit dem Trikot aus Seide
Der taktisch verschenkte Etappensieg von Henn und Heppner
Aberglaube, oder: Lass bitte das Salz stehen
Der liebe Gott ganz nah am Rad
Geld regiert auch die Tour
Legales Essen und feister Betrug
Mahlzeit
Die Weißweinpause des Abdelkader Zaaf
Hennes Junkermann und „dä Fisch“
Doping
Fahrerstreik nach Dopingtests
Ziemlich gewagte Ausreden
Chaos-Tour 1998
Die Tour und die Presse
Gegen den Strom am Mont Ventoux
Die Sache mit dem Cabrio
Mit Rudi Altig geht es besser
Wo zum Teufel ist das Bett?
Alle sehen das Rennen – nur Livereporter der ARD nicht
Wenn Journalisten Rennen fahren
Finale
Die Tour de France ist ein Radrennen – das könnte man durchaus so sagen, es wäre aber ein wenig zu kurz gesprungen. Etwa so wie: Wimbledon ist ein Tennisturnier, der Große Preis von Monaco ein Autorennen und der Ironman auf Hawaii ein Triathlon. Stimmt natürlich alles – und auch wieder nicht, weil all diese Veranstaltungen eben auch weltweit strahlende Monumente des Sports sind. Und manchmal auch mehr. Über die Tour de France sagen zum Beispiel viele, eigentlich sei sie ein Autorennen mit Radprofis als Behinderung. Oder so etwas wie ein Verkehrsinfarkt auf Reisen. Manche stempeln die Tour gern als das letzte große sportliche Abenteuer für Radrennfahrer und Zuschauer. All das trifft es natürlich auch.
Nüchtern betrachtet ist die Tour de France das größte mobile Sportereignis der Welt und das drittgrößte nach den Olympischen Spielen und Fußballweltmeisterschaften. Die 21 Etappen bewegen alljährlich Menschen und Millionen, schaffen Sieger und Verlierer, Stars und tragische Figuren. Als 2003 die Tour 100 Jahre alt wurde, erschienen Geschichtsbände, die waren so dick und schwer, dass man sie nur am Tisch lesen konnte, weil sie einen im Bett erschlagen hätten. Spätestens da war klar, dass dieses Radrennen unentwegt Geschichten produziert, die weit über das Nacherzählen eines Renntages hinausgehen. In Frankreich hat man das wortreiche Fabulieren darüber kultiviert; kaum ein Schriftsteller oder Philosoph, der etwas auf sich hält, hat nicht über die Tour geschrieben. Da unterscheidet sich die Frankreichrundfahrt gewaltig vom Giro d’Italia oder der Vuelta in Spanien. Beide Rennen sind vom Profil her vor allem in jüngerer Zeit oft noch härter, die Etappen schwerer. Aber die großen Geschichten werden über die „Grande Boucle“ erzählt, und genau dafür wurde sie ja 1903 von dem Verleger Henri Desgrange aus der Taufe gehoben: als Marketinginstrument für die Zeitschrift L’Auto-Vélo – später L’Auto , und aus der entstand dann die L’Équipe . Und L’Auto schrieb mit dickem Pathos über die wackeren „Helden der Landstraße“, damit die Auflage ebenso wacker stieg.
So entstanden über Generationen hinweg Geschichten, die so ziemlich alles sein konnten. Heldenepen oder rührselige Dramen von tragischen Verlierern und Opfern. Aber eben auch Storys über Heiteres und Kurioses – und genau von diesen Ereignissen handelt dieses Buch. Die Tour de France kurios – Anekdoten, die einem ein Lächeln oder Staunen ins Gesicht zaubern. Manchmal aber auch ein nachdenkliches Schaudern, wenn es um Doping geht. Viele Episoden, allerdings ohne den Anspruch auf Vollständigkeit. Auch dieses Buch kann nicht alle Kuriositäten aus der über 100-jährigen Tourgeschichte aufzählen. Dazu sind es zu viele, und vor allem ist bei manchen die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit doch ziemlich fließend. Ein wunderbares Beispiel dazu vornweg: In den 1970er-Jahren war es durchaus üblich, den Dopingkontrolleuren den Urin einer anderen Person unterzujubeln, den man in Beuteln am Körper trug und dann in die Probenfläschchen füllte. Fakt ist, dass der Belgier Michel Pollentier 1978 als Führender der Gesamtwertung bei so einem Versuch in Alpe d’Huez erwischt und disqualifiziert wurde. Hartnäckig hält sich zudem das Gerücht, dass damals noch ein anderer Profi auffiel – dem gratulierten die Kontrolleure nach dem Ergebnis der Tests allerdings herzlich zur Schwangerschaft … Da kann man nur sagen: Augen auf bei der Urinauswahl. Ob diese Geschichte wahr ist? Nichts Genaues weiß man nicht.
Reine Spekulationen gibt es in diesem Buch aber nur wenige, und die sind dann auch als solche gekennzeichnet. Die meisten hier wiedergegebenen Kuriositäten sind faktisch belegt. Besonders die jüngeren Datums. Und dann legen wir jetzt mal los.
Die Anarchie der Gründertage
Die Tour wird heute ja gern als großes, hektisches, kaum zu kontrollierendes Spektakel erlebt. Besonders in den Bergen, wenn die Zuschauer wie wild gewordene Kastenteufel brüllend neben den Radlern herrennen, schütteln viele am Fernseher nur den Kopf. Was für ein Theater, was für ein Stress, und warum regen sich die Leute denn um alles in der Welt so auf? Was passiert da, wenn der ansonsten eher distinguierte Verwaltungsbeamte plötzlich mit geballten Fäusten am Straßenrand hüpft und zuckt, als hätte er die Finger in der Steckdose, und dabei mit schrecklich verzerrtem Gesicht brüllt, dass man kaum noch die Hupen der Autos hört? Es ist wohl einfach die Faszination des archaischen Kampfes der Männer mit der Straße, die die Leute packt und ausflippen lässt. Wenn sich die Profis schon so schinden, dann muss auch ich alles geben. Manche wollen aber auch nur schlicht ins Fernsehen.
Aber eines ist auch klar: Was wir heute als Massenevent erleben, war in den Gründertagen der Tour nicht mehr als ein besserer Kindergeburtstag. Exemplarisch dafür war gleich die zweite Tour 1904. Aus heutiger Sicht lief die so kurios, dass sie es heutzutage beinahe jeden Tag in die Spitzenmeldungen der Tagesschau schaffen würde. Schon nach der ersten Etappe von Paris bis Lyon ließ Tourchef Henri Desgrange den Etappenzweiten Chevalier disqualifizieren, weil er ein gutes Stück der 476 Kilometer in einem Auto gesessen hatte. Im weiteren Verlauf des Rennens wurden Fahrer von Zuschauern bedroht oder sogar verprügelt. Maurice Garin, der Sieger der ersten Tour de France ein Jahr zuvor, wurde auf der Etappe nach Marseille in der Gegend von St. Etienne von Zuschauern mit Knüppeln niedergeschlagen, weil er mit zwei anderen auf der Verfolgung von Lokalmatador Alfred Faure war. Um die Leute zu „beruhigen“, schoss der Rennleiter Géo Lefèvre mit seiner Pistole immer wieder in die Luft. An dieser Geschichte kann man übrigens wunderbar sehen, wie trüb doch manchmal die Quellen sind. Von den Schüssen berichteten viele; es gibt aber auch Quellen, die schreiben, dass damals Tourchef Henri Desgrange persönlich und nicht sein Rennleiter Lefèvre geschossen habe. Wie auch immer – so ein Vorfall würde heute das sofortige Ende des Rennens bedeuten.
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