Sie schaffte es, die Tür zu schließen, ohne dass Bob sie abfing. Sie fuhr den PC hoch, loggte sich ein und erledigte die Routinearbeiten ohne Begeisterung, dafür umso schneller. Dann kam die Stunde der Wahrheit. Sie rief das Formular für den Rapport ihrer Geschäftsreise auf. Mechanisch tippte sie die notwendigen Angaben wie Datum, Kontaktadresse, Zweck des Besuchs in die Felder des Deckblatts. Dazwischen schielte sie auf den Notizblock, als graute ihr vor seinem Inhalt. Das wichtigste Ziel der Reise hatte sie klar verfehlt. Ryans Modell lagerte noch immer unverstanden auf den Servern der Universität in Bristol. Schwierig, diese Tatsache so zu formulieren, dass ihr Boss die Reise als Erfolg verbuchte. Bobs Weltsicht in dieser Hinsicht war einfach: Ziel erreicht oder nicht, gut oder schlecht. Sie sah die Dinge differenzierter. Sie kannte Zwischentöne zwischen weiß und schwarz. Aus ihrer Sicht hatte sich die Reise gelohnt, und das nicht nur, weil sie nach langer Zeit wieder einmal die Luft von Oxford Street und West End geschnuppert hatte. Der Kontakt zum britischen Genie war hergestellt. Sie wusste nun, dass sein Modell höchst wahrscheinlich für die Suche nach den Hintermännern von Mountain Pass taugte. Sie hatte ihn neugierig gemacht. Mehr noch: er hatte Blut gerochen. Wenn sie nicht alles täuschte, war er bereits an der Erweiterung seines Modells, die sie so locker nebenbei besprochen hatten. Und all das, ohne ihre wahre Identität und Aufgabe preiszugeben. Je mehr sie darüber nachdachte, desto zufriedener fühlte sie sich. Auch Bob musste das mit der Zeit begreifen. Sie wusste jetzt, was sie schreiben wollte. Jedes Wort war wichtig, vor allem die Wörter, die man wegließ. Darin hatte sie Übung aus ihrer Zeit beim ›Journal‹.
Ihr Bericht neigte sich dem Ende zu, als das schwarze Telefon klingelte. Sie zuckte zusammen. Ihr Herz pochte und das Blut schoss ihr in die Schläfen, als sie die Vorwahl des Anrufers sah: 44, Großbritannien. Die Journalistin nahm den Hörer und meldete sich wie üblich:
»›Wall Street Journal‹, Alex Oxley.«
»Alex, guten Morgen. Ryan Cole hier.«
»Ryan, wie geht es Ihnen? Gut dass Sie anrufen. Ich wollte mich gerade bei Ihnen melden«, flunkerte sie, während sie versuchte, sich trotz der Stimme am andern Ende der Leitung zu beruhigen.
»Trifft sich gut. Es gibt Neuigkeiten.«
»Ich höre?«
»Wollen Sie eine Wette mit mir abschließen?«
»Ich verliere immer«, lachte sie.
»Diesmal bestimmt, wenn Sie gegen mich wetten. Sie wissen, wir lassen das Modell jetzt dauernd den Markt beobachten. Seit heute Morgen erkennen wir einen neuen, völlig unerwarteten Trend im Commodity-Handel. Ich dachte, das würde Sie vielleicht interessieren für Ihren Artikel.«
»Auf jeden Fall. Worum geht es denn?«
»Lithium. Seit ein paar Tagen entwickelt sich der Preis genau nach dem Muster einer typischen Blase. Sie wird innerhalb eines Monats platzen. Dann fallen die Preise wieder auf das alte Niveau.«
»Sie sagen ja doch die Zukunft voraus«, neckte sie. Dann fragte sie im Tonfall der routinierten Statistikerin: »Konfidenz?«
»Achtzig Prozent.«
»Immerhin. Das ist gut. Ich wette nicht, aber ich wünsche, dass Ihre Voraussage in Erfüllung geht. Wäre eine brillante Ergänzung für den Artikel.« Achtzig Prozent betrug die Wahrscheinlichkeit, dass die Lithium-Blase innerhalb eines Monats platzte. Erstaunlich, wie genau das Modell rechnete, wenn sich die Wirklichkeit an die Prognose hielt.
»Wenn Sie wollen, sende ich Ihnen die Details an die Mailadresse auf Ihrer Karte. Ist das in Ordnung?«
»Ja, natürlich, ausgezeichnet. Vielen Dank, Ryan.« Der Name schmolz auf ihrer Zunge fast wie die Schokolade in seiner Stimme.
Bob streckte den Kopf zur Tür herein. Wie üblich ohne anzuklopfen. Sie hob nur den schwarzen Hörer in die Höhe, worauf er sich sofort wieder zurückzog. Schwarze Anrufe wirkten in diesem Haus besser als Besetztzeichen an der Tür.
»Alex? Sind Sie noch da?«
»Ja, sorry.«
»Ich fragte, weshalb Sie mich sprechen wollten.«
»Ach so, ja – klar.« Lass dir schnell etwas einfallen, Mädchen. Sie räusperte sich, während ihre Gedanken rasten. Der künstliche Husten half ihr, für eine Sekunde nicht an die sportliche Stimme zu denken. »Ich – wollte mich erkundigen, ob Sie nochmals über die Erweiterung nachgedacht haben.«
»Die SWIFT-Sache meinen Sie?«
»Ja.«
»Die dürfte ziemlich trivial sein. Wir brauchen nur ein Stück Software, das die Meldungen analysiert und die benötigten Felder für unsern Input Feed aufbereitet. Ein Kinderspiel für einen SWIFT-Spezialisten. Die Auswertungsmodule sind bereits so konzipiert, dass sie alle Resultate bis zu den Quellen aufschlüsseln können. ›Backtracking‹ nennen wir das.«
»Das ist – gut.« Eine intelligentere Antwort fiel ihr nicht sofort ein. Heute war ihr Glückstag. Bob würde begeistert sein. Vielleicht auch nicht. Das Modell war immerhin noch nicht im Haus.
»O. K., ich muss wieder. Hat mich gefreut, mit Ihnen zu sprechen, Alex.«
»Mich – auch. Bitte die Mail nicht vergessen.«
»Alles klar. Bis zum nächsten Mal.«
Gar nichts war klar. Was bildete dieser Ryan sich ein, sie derart zu verwirren? Warum tauchten plötzlich die verträumten Augen seiner Verlobten hinter ihrem Monitor auf? Das blonde Gift sagte kein Wort, aber sie wusste genau, was die Frau sagen wollte. Und sie hatte wahrscheinlich recht.
»Schlag dir diesen Kerl aus dem Kopf«, schnauzte sie das Phantom an.
»Was soll ich?« Bob trat ein. Er schien nur gewartet zu haben, bis sie den Hörer auflegte.
»Komm doch herein«, lächelte Alex säuerlich.
»Lass die Scherze. Wo ist das Modell?«
»Das ist eine längere Geschichte. Der Bericht ist fast fertig. Wenn du mir noch zehn Minuten …«
»Wäre ich dann in deinem lausigen Büro? Ich habe keine zehn Minuten. Also?«
»Das Modell muss erst erweitert werden.« Es hörte sich an wie eine Tatsache, und so ganz falsch war die Antwort nicht. Sie erklärte ihm die notwendigen Anpassungen, indem sie wiederholte, was sie eben gehört hatte.
»SWIFT-Gurus haben wir genug«, brummte Bob. »Kein Problem. Wo sind die Spezifikationen?«
Gute Frage. Wenn sie ihre SWIFT-Daten in Ryans Modell füttern wollten, mussten die Programmierer der NSA genau wissen, welche Informationen in welchem Format die britische Software benötigte. Mist. Verwirrt wie sie war, hatte sie völlig vergessen, diese naheliegende Frage zu stellen. »Er – meint, die Schnittstellen müsse man zusammen erarbeiten«, antwortete sie unsicher. Sie hoffte, Bob würde die Spekulation nicht riechen.
Er schüttelte den Kopf und knurrte verächtlich: »Blödsinn.«
»Vergiss nicht: das ist ein Forschungsprojekt, kein kommerzielles Software-Paket mit sauber dokumentierten Modulen und Daten-Schnittstellen.« Wenn sie schon flunkerte, konnte sie gleich weitermachen. Sie musste dringend das Thema wechseln. »Ich habe übrigens gerade mit Ryan gesprochen«, erwähnte sie beiläufig.
»Und?«
»Es gibt interessante Neuigkeiten. Sein Modell ist einer weiteren Blase auf der Spur, die sehr bald platzen soll.«
»Was du nicht sagst.«
Sie ignorierte den sarkastischen Unterton und berichtete von Ryans Wette. Sobald sie das Lithium erwähnte, horchte Bob auf.
»Lithium?«, unterbrach er erregt. »Lithium, verstehst du? Batterien, Akkus, Elektronik, Elektroindustrie, Waffentechnologie, Energiepolitik. Klingelt’s?«
»Ich weiß nicht …«
Händeringend klärte er sie auf: »Mountain Pass, Neodym, Magnete für Generatoren, Elektromotoren, Waffen, Energiepolitik. Siehst du einen Zusammenhang?«
»Du glaubst …«
»Was ich glaube braucht niemanden zu interessieren. Wir brauchen alle Facts über diese Lithium-Geschichte, und zwar auf der Stelle. Eine zweite Pleite wie Mountain Pass können wir uns nicht leisten.«
Читать дальше