"Mein Name ist Marrin", stellte der Zwerg sich vor. "Ich werde Euch nach Cavillon fliegen."
"Nicht nach Cavillon, zumindest nicht direkt", entgegnete Maziroc. "Es hat eine Änderung gegeben. Zunächst möchte ich Ai'Lith aufsuchen."
"Die Hohe Festung der Elben?", hakte der Zwerg nach, überrascht und unwillig. "Aber ich habe den Auftrag ..."
"Ich habe Grund zu der Vermutung, dass die Damonen auch in Richtung auf die Hohe Festung marschiert sind, und ich muss wissen, was dort geschieht", fiel Maziroc ihm ins Wort. "Ihr braucht nicht in Ai'Lith selbst zu landen, wenn Euch der Gedanke unangenehm ist. Es genügt, wenn Ihr mich in der Nähe absetzt, aber auf jeden Fall ist die Hohe Festung mein Ziel. Ich habe nicht um diese Hilfe gebeten, sie ist mir von Euren Königen angeboten worden. Falls Ihr jedoch ein Problem habt, sie mir zu gewähren, dann sagt es direkt, damit wir nach einem anderen Weg suchen können."
Marrin überlegte ein paar Sekunden lang und musterte den Magier abschätzend, dann nickte er schließlich. "Nein, ich glaube nicht, dass das ein Problem ist", erklärte er, doch besonders glücklich wirkte er dabei nicht. "Ein Ziel ist wohl so gut wie das andere, schließlich müsst Ihr wissen, wohin Ihr wollt."
Er führte sie auf einen Drachen zu, der bereits in der Nähe der Steilklippe wartete, die den Ashran in nördlicher Richtung begrenzte. Ohne es bewusst zu merken ging Maziroc genau wie auch Pollus automatisch immer langsamer, je näher sie ihm kamen. Im Gegensatz zu den allermeisten Menschen hatte er schon zuvor Drachen aus der Nähe gesehen, doch so nah war auch er ihnen noch nie gekommen.
Es handelte sich um das mit Abstand hässlichste Tier, das er je erblickt hatte, eine Bestie, die nur aus Muskeln, grünlich-grauen Panzerplatten und Wildheit zu bestehen schien, obwohl sie im Moment fast reglos stand. Das Gewicht ihres titanischen Körpers lastete auf vier extrem dicken, aber dafür sehr kurzen Beinen, sodass die Bauchseite ihres Leibes fast den Boden berührte. Die Beine endeten in mörderischen Klauen, von denen sich einige wie spielerisch in den massiven Felsuntergrund gegraben hatten. Das Maul des Drachen war groß genug, dass er einen Menschen mit einem Bissen verschlingen könnte, und die darin schimmernden Reißzähne waren lang wie Dolche.
Selbst den Damonen stand die Flugechse an Scheußlichkeit kaum nach, dennoch ließ sie sich in keiner Form mit ihnen vergleichen. Es schien sich um ein noch recht junges Tier zu handeln, zumindest war es nicht annähernd so groß, wie beispielsweise der verletzte Drache vom vergangenen Nachmittag. Obwohl es sich kaum bewegte und trotz seines abstoßenden Äußeren wirkte es auf schwer zu beschreibende Art dennoch majestätisch, und als Maziroc in seine glitzernden Facettenaugen blickte, hatte er fast das Gefühl, es mit einem intelligenten Wesen zu tun zu haben.
Er schauderte, obwohl er nicht recht wusste, was der Auslöser dafür war: Die ungeheure Größe und Stärke des Drachen oder der fast intelligente Ausdruck in den Augen des Tieres. Ärgerlich versuchte er, dieses Gefühl zu verdrängen, doch es gelang ihm nicht. Der bevorstehende Flug auf dem Drachen versprach eines der herausragendsten Erlebnisse seines Lebens zu werden, doch mit einem Mal fühlte er sich in der Nähe der gewaltigen Echse geradezu unwohl.
"Also los, worauf wartet Ihr?", fragte Marrin und deutete auf die Strickleiter, die von dem Transportkorb auf dem breiten Rücken des Drachen herabhing. Seine Stimme klang mürrisch, anscheinend konnte er sich auch jetzt noch nicht recht mit dem neuen Reiseziel anfreunden. Vielleicht behagte ihm aber auch der ganze Auftrag nicht. Manchen Zwergen mochte es als ein Sakrileg erscheinen, einem Magier und einem der so verachteten normalen Menschen zu gestatten, auf einem Drachen zu fliegen. Falls es sich so verhielt, war es Maziroc allerdings schleierhaft, warum man ausgerechnet jemanden mit einer solchen Einstellung für diese Aufgabe ausgewählt hatte.
Er überwand sein Unbehagen, trat an den Drachen heran und stieg die Strickleiter hoch. Dicht gefolgt von Pollus kletterte er in den Korb. Eigentlich entsprach das Gebilde diesem Namen nicht ganz. Es handelte sich eher um eine Art hölzerne Plattform, die von einem Geländer aus Metallstreben und dickem Leinenstoff umgeben war. Mit mehreren gut meterbreiten Gurten und dicken Seilen war die Konstruktion auf dem Rücken der Flugechse festgezurrt. Da der Drache selbst noch längst nicht ausgewachsen war, war auch der Korb nicht ganz so groß wie bei einigen anderen Tieren, bot aber immerhin auch noch mindestens vier bis fünf Dutzend Zwergen oder Menschen Platz.
Pollus holte die Strickleiter ein und blickte sich mit leuchtenden Augen um, während Maziroc beobachtete, wie Marrin geschickt am Hals des Drachen hinaufkletterte. Unmittelbar hinter einer Art Höcker nahm er in einer wie für diesen Zweck geschaffenen Vertiefung Platz. Der aus dem Hals der Echse herausragende Höcker stellte eine äußerst sensible Art von Nervenknoten dar. Durch leichten Druck darauf mit den Händen konnte der Reiter seinen Drachen ohne jede Kraftanstrengung wesentlich sanfter und präziser lenken, als dies beispielsweise bei einem Pferd selbst mit dem besten Zaumzeug der Welt möglich wäre.
"Seid ihr bereit?", fragte er und wandte kurz den Kopf zu den beiden Menschen um.
Maziroc nickte zustimmend.
"Dann haltet euch jetzt gut fest. Es kann etwas ungemütlich werden, bis wir in der Luft sind." Spott, fast schon Schadenfreude schien in der Stimme des Zwerges mitzuklingen.
An der Innenseite des Korbes gab es eine Vielzahl kleiner Lederschlaufen. Genau wie Pollus schob Maziroc seine Hände in zwei davon, und gleich darauf setzte sich der Drache in Bewegung. Gleitend richtete er sich auf. Er warf seinen Kopf in den Nacken, dass Maziroc bereits befürchtete, Marrin müsste durch den Ruck davongeschleudert werden, doch der Zwerg saß sicher und fest in seiner Vertiefung. Mit hoch erhobenem Kopf stieß der Drache einen lauten, wilden Schrei aus und entfaltete seine bislang eng am Körper angelegten Flügel. Scheinbar probeweise schlug er ein paarmal mit den Schwingen auf und ab, dann lief er los.
Aufgrund seiner ungeheuren Größe wirkten seine Schritte zunächst langsam, geradezu schwerfällig, aber in Wahrheit waren sie weder das eine noch das andere. Binnen weniger Sekunden erreichte der Drache die Klippe. Es gab einen harten Ruck, als sich unter ihm plötzlich kein Boden mehr befand und das Tier in die Tiefe zu stürzen begann.
Pollus stieß einen entsetzten Schrei aus, und auch Maziroc klammerte sich starr vor Schrecken an die Halteschlaufen, doch der Moment der Furcht dauerte nicht mehr als ein, zwei Sekunden. Nach kaum einem halben Dutzend Meter Fall fing sich genügend Wind unter den riesigen Schwingen der Echse, um den Sturz in ein sanftes Gleiten übergehen zu lassen. Mit einem weiteren Flügelschlag katapultierte sich das Tier wieder nach oben, stieg bis über die Höhe des Ashran und schien dann geradewegs zum Himmel emporzuschießen.
Allmählich entspannte Maziroc sich und ließ kurz darauf auch die Griffe los. Der Flug des Drachen war so sanft, dass selbst während der gelegentlichen Flügelschläge kaum Bewegungen zu spüren waren. Fast schwerelos schien er auf seinen gewaltigen Schwingen dahinzugleiten, nutzte mehr das Spiel von Auftrieb und Fallwinden, als dass er mit den Flügeln schlug.
Höher und höher stieg der Drache, sodass die Welt unter ihnen immer kleiner zu werden schien. Schon jetzt waren Ravenhorst und der Ashran nur noch ein kleiner Punkt inmitten der Todessümpfe. Kurze Zeit später bereits überflogen sie die morastige Ostküste des großen Binnenmeeres, und dann erstreckte sich in jeder Himmelsrichtung schließlich nur noch Wasser unter ihnen, soweit der Blick auch reichte.
Das Binnenmeer war gewaltig. Es teilte Arcana in die östlichen und die westlichen Länder, und es war auch dafür verantwortlich, dass jeder Reisende sich entscheiden musste, ob er eine nördliche oder südliche Route einschlug, je nachdem, welchen Weg er wählte, es zu umgehen. Trotz seiner Größe gab es auf dem Binnenmeer keine Schifffahrt, was an der Beschaffenheit der Küste lag. Im Osten und im Süden ging das Meer direkt in die Sümpfe über, und das Ufer war zu morastig, als dass dort Schiffe anlegen könnten. Im Westen und Norden hingegen bestand es größtenteils aus Steinklippen, und wo die Küste einigermaßen flach war, da lauerten dicht vor dem Ufer gefährliche, scharfe Riffe, die den Rumpf jedes Bootes aufschlitzen würden.
Читать дальше