"In Ordnung", sagte Rattengesicht. "Jetzt steck das Schwert wieder weg! Leg die Hände auf den Kopf und komm langsam zu uns herüber!"
Widerspruchslos folgte Kenran'Del dem Befehl. Er steckte das Schwert vorsichtig in die Scheide zurück, faltete die Hände über dem Kopf und kam auf die Mühle zu.
"Nicht erschrecken", hörte Miranya plötzlich eine männliche Stimme leise in ihr rechtes Ohr wispern, aber natürlich tat sie es doch. Sie zuckte zusammen wie unter einem Hieb und blickte sich hastig um, doch niemand stand rechts von ihr.
Der Rattengesichtige hatte ihr Zusammenzucken bemerkt und warf ihr einen kurzen misstrauischen Blick zu. Gleich darauf aber zuckte er mit den Schultern und beobachtet wieder den sich nähernden Kenran'Del.
"Hab keine Angst", vernahm Miranya erneut die leise Stimme. "Dir wird nichts passieren, aber lass dir jetzt nichts mehr anmerken, sonst bringst du uns nur beide in unnötige Gefahr."
Sie warf einen nervösen Blick zur Seite, doch auch weiterhin konnte sie niemanden sehen. Nicht nur das, sie spürte auch geistig nichts. Jedes intelligente Wesen, selbst die meisten ihr bekannten größeren Tiere, strahlten eine mentale Aura aus, eine Art geistiges Rauschen, das ein Magier und eine Hexe auffingen, auch wenn sie es meist nur unterbewusst wahrnahmen. Miranya bezweifelte, dass so etwas überhaupt möglich war, doch selbst wenn sie es mit einem so mächtigen Magier zu tun hätte, dass dieser sich unsichtbar machen könnte, müsste sie seine Gegenwart zumindest mental spüren. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie empfing absolut nichts.
Obwohl es unmöglich war, weil sich neben ihr absolut niemand befinden konnte, spürte sie jedoch im nächsten Moment die Berührung einer kalten Messerklinge an ihren Handgelenken. Ihre Fesseln wurden bis auf einige dünne Faserstränge durchgeschnitten.
"Den Rest kannst du selbst zerreißen", raunte ihr die Stimme zu. "Warte, bis ich es dir sage, dann befreie dich und lauf zu Maziroc hinüber. Keine Sorge wegen der Heckenschützen, um die kümmere ich mich."
Unter anderen Umständen hätte die Gegenwart eines Mannes, den sie weder sehen noch mental spüren konnte, sie sicherlich geängstigt. Jetzt aber hatte sie nichts mehr zu verlieren, und offensichtlich versuchte der Fremde ihr wirklich zu helfen. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung für sie.
Kenran'Del hatte mittlerweile mehr als die Hälfte der Strecke bis zur Mühle zurückgelegt. Er schien wirklich bereit zu sein, sich ohne jede Gegenwehr zu ergeben und den Caer-Sharuun auszuliefern, allerdings stand für Miranya außer Frage, dass er etwas von dem Befreiungsversuch wusste und vermutlich auch etwas mit ihrem unsichtbaren Helfer zu tun hatte.
In diesem Moment zuckte der Rattengesichtige plötzlich zusammen. Miranya sah, dass er ein Stück neben ihr zu Boden starrte, und als sie seinem Blick folgte, sah auch sie, was er entdeckt hatte. Ihr unsichtbarer Helfer mochte aufgrund einer ihr unbekannten Magie unsichtbar und mental stumm sein, aber in dem gut knöchelhohen Schnee hinterließ er Fußabdrücke wie jeder andere Mensch auch.
Der Rattengesichtige hielt sich nicht erst lange mit Überlegungen auf, woher die Abdrücke stammten, obwohl er niemanden sehen konnte. Er stieß einen warnenden Ruf aus, während seine Hand zum Gürtel glitt. Blitzschnell zog er sein Schwert und ließ die Klinge in Leibeshöhe dort durch die Luft wirbeln, wo am Boden gerade ein weiterer Abdruck unter der Last eines unsichtbaren Fußes im Schnee entstand. Ein Schmerzensschrei ertönte aus dem Nichts.
Nur wenige Sekunden später wurde die alte Mühle von einer Explosion erschüttert. An gleich drei verschiedenen Stellen loderten Stichflammen empor, die in dem trockenen Holz sofort frische Nahrung fanden und sich in rasendem Tempo weiterfraßen. Die Männer, die sich noch in dem Gebäude aufhielten, kamen in Panik ins Freie gestürzt; sogar der Heckenschütze, der im Obergeschoss gelauert hatte, sprang voller Furcht direkt aus dem Fenster, da die Flammen ihm jeden anderen Fluchtweg abschnitten. Sekundenlang herrschte völliges Chaos.
Miranya sah, dass Kenran'Del mittlerweile wieder umkehrte und zu Maziroc zurückhastete. Sie zerriss die Reste ihrer Fesseln, tauchte unter dem Schwert des Rattengesichtigen hindurch und versetzte ihm einen Stoß, der ihn zurücktaumeln ließ. Gleich darauf wollte sie ebenfalls zu Maziroc hinüberrennen, doch die Hand ihres unsichtbaren Helfers ergriff sie am Arm und zerrte sie in eine andere Richtung, direkt auf die nächststehenden Büsche zu.
Hinter ihnen brüllte der Rattengesichtige irgendwelche Befehle, doch niemand hörte auf ihn. Die Mühle loderte bereits lichterloh, viel schneller, als sie in den wenigen Sekunden, die seit der Explosion erst verstrichen waren, eigentlich hätte brennen dürfen. Kopflos flüchteten die Männer vor dem Flammeninferno und der Höllenhitze, die von dem Gemäuer ausstrahlte. Keiner dachte daran, die flüchtende Miranya zu verfolgen, und von dem Unsichtbaren schien außer dem Mann mit dem rattenähnlichen Gesicht ohnehin keiner etwas mitbekommen zu haben. Dafür war alles zu schnell gegangen.
Als er merkte, dass niemand seinen Befehlen gehorchte, nahm der Rattengesichtige schließlich selbst die Verfolgung auf, doch hatten Miranya und ihr unsichtbarer Begleiter bis dahin bereits einen beträchtlichen Vorsprung. Sie tauchten in das dichte Buschwerk ein.
"Lauf noch ein Stück weiter und warte dann auf mich!", befahl der Unbekannte. "Ich halte ihn auf."
Er ließ ihren Arm los. Wie er es ihr aufgetragen hatte, lief Miranya weiter. Zwischen den Sträuchern lag nicht so viel Schnee, als dass es deutliche Spuren gegeben hätte, außerdem ließ sie bei jeder Berührung der Zweige hinter sich so viel Schnee herabwirbeln, dass dieser ihre Abdrücke sofort wieder verdeckte.
Sie bekam nicht genug Luft für die Anstrengung, aber immerhin hatte sie jetzt die Hände frei. Während des Laufens zerrte Miranya den Knebel aus dem Mund, schleuderte ihn zur Seite und genoss es, wieder frei durchatmen zu können.
Hinter sich hörte sie einen Schlag, dem ein Schmerzenslaut und gleich darauf ein dumpfer Fall folgten. Wenige Sekunden später trat ein ihr unbekannter Mann aus dem Unterholz. Er besaß eine vage Ähnlichkeit mit Kenran'Del, doch war er nicht ganz so groß und kräftig. Außerdem wirkte sein Gesicht feiner und ausdrucksstärker. Kleine Fältchen um seinen Mund und seine Augen und zwei Grübchen an seinen Wangen verrieten, dass er gerne lachte, doch in seinen braunen Augen, die durch die langen, seidigen Wimpern noch betont wurden, stand auch der Ausdruck eines tief in ihm verborgenen Schmerzes geschrieben; eine Melancholie und Traurigkeit, die sie auf sonderbare Weise anrührten. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er mochte Anfang dreißig sein, vielleicht einige Jahre jünger, vielleicht älter.
Mit Schrecken registrierte Miranya, dass sie ihn selbst jetzt mental nicht spüren konnte, obwohl sie ihn sah. Er war in dieser Hinsicht so stumm, als gäbe es ihn gar nicht, eine gänzlich fremde und unangenehme Erfahrung für sie. Aber auf jeden Fall hatte er ihr erst die Flucht ermöglicht und sie damit gerettet, also stand er wohl auf ihrer Seite. Dann sah sie, dass im linken Ärmel seines Mantels ein Loch klaffte. Die Ränder waren blutverschmiert, und jetzt erinnerte sie sich auch wieder, dass der Rattengesichtige ihn mit seinem Schwert angegriffen hatte.
"Du bist verwundet", stieß sie hervor und griff nach seinem Arm, um nach der Wunde zu sehen, doch er entzog sich ihr.
"Das ist nur ein kleiner Kratzer", behauptete er. "Darum können wir uns später kümmern. Jetzt müssen wir erst einmal weg von hier, bevor diese Kerle sich von ihrem Schrecken erholt haben und sich an die Verfolgung machen. Noch ein Stückchen weiter, dort warten zwei Pferde auf uns."
"Dann sag mir wenigstens, wie du heißt", verlangte Miranya. "Immerhin hast du mir das Leben gerettet. Diese Kerle wollten mich gar nicht austauschen. Sie hätten mich getötet, sobald sie Kenran'Del in ihrer Gewalt gehabt hätten."
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