»Klar, Sabine, mach ich«, sagte Yilmaz und startete den Mercedes.
Als sie mit beiden Fahrzeugen die Bundesstraße erreicht hatten, kamen ihnen drei Leichenwagen entgegen. Erst jetzt wurde Sabine die ganze Dimension des Grauens bewusst, das sich dort in diesem Haus abgespielt haben muss.
Es war nun schön warm und über den Bäumen sah man den blauen Himmel. Der Wolf hatte sich in ein Gebüsch verkrochen und Sahas saß in seiner Nähe. Eine ganze Zeit hatte der Wolf geschlafen, während Sahas vor sich hin döste. Ihm war langweilig und er hatte Hunger. Im Haus gab es viel zu essen, aber da konnte er nicht hin, oder?
In der Ferne hörte Sahas Geräusche. Autos. Die hörte man im Wald sonst nie. Das laute Ding über den Baumspitzen war nicht mehr aufgetaucht. Sahas war es gewohnt, dass Garima und Udgam, vor allem jedoch Kamini, ihm sagten, was er tun soll. Aber die waren nicht da. Er musste sich das nun selbst sagen. Er wühlte mit der Hand auf dem Waldboden herum. Ob es hier etwas gab, das man essen konnte? Im Garten hinter dem Haus wuchsen ja auch Büsche mit leckeren Sachen dran. Himbeeren, Brombeeren und ein Baum mit Kirschen, aber die waren noch nicht reif. Im Boden steckten Möhren, es gab Bohnen und Kohl, auch Kartoffeln. Das alles hatte er hier im Wald nirgendwo gesehen.
Plötzlich sprang der Wolf auf, er machte einen Satz nach vorne, tiefer ins Gebüsch und war halb verschwunden. Dann kam er wieder hervor und ging langsam auf Sahas zu. Er hatte etwas im Maul, das er nun vor Sahas ablegte. Eine Maus. Sie bewegte sich nicht. Der Wolf sah Sahas an. Sahas sah die Maus an. Sie war tot. Sollte er sie etwa essen? Hatte der Wolf sie für ihn gefangen? Sahas fasste die Maus mit spitzen Fingern am Schwanz, hielt sie sich vors Gesicht und schnupperte daran. Sie roch nach gar nichts. Sahas hatte schon viele Mäuse gesehen, tote und lebendige. Die hier war wie alle anderen. Der Wolf hatte sie mit seinen großen Zähnen kaum verletzt. Wenn sie im Haus Tiere aßen, zogen ihnen Udgam oder Om vorher das Fell ab. Sahas war schon mal dabei gewesen. Eine Maus einfach so zu essen, wie es Katzen taten und Wölfe vermutlich auch, das schaffte Sahas nicht. Kamini schimpfte immer, wenn Om und Udgam tote Tiere mitbrachten. Sie sagte dann, dass es Sünde sei, Fleisch zu essen und es die Menschen krank mache. Doch die Männer lachten nur. Sahas legte die Maus zurück auf den Waldboden.
»Nimm du sie, Wolf«, sagte er. »Du hast doch auch Hunger.« Der Wolf stieß mit der Nase gegen die Maus und schob sie zu Sahas. Der musste lachen. »Nein, du. Nicht ich.« Sahas nahm die Maus an der Schwanzspitze und hielt sie dem Wolf vor die Nase. Der schnupperte daran, sah Sahas an, dann wieder die Maus und plötzlich schnappte er zu. Mit einem Happs hatte er die Maus im Maul und würgte sie runter. »Siehst du«, sagte Sahas, der beim Zuschnappen des Wolfsmauls mit den großen weißen Zähnen sehr erschrocken war, »das hat dir doch bestimmt gut geschmeckt.« Er hätte den Wolf jetzt gerne gestreichelt, aber das traute er sich nicht.
Sahas hatte lange in der Wärme geschlafen. Der Wolf auch. Aber dann war er erneut vom Hunger geweckt worden.
»Hey, Wolf«, flüsterte er und der Wolf hob den Kopf. »Ich gehe in unser Haus und hole uns was zu essen. Okay?«
Natürlich verstand ihn der Wolf wieder nicht. Sahas zeigt mit dem Finger auf den Boden und sagte: »Warte hier, Wolf. Ich komme gleich wieder.«
Er stand auf und ging in die Richtung, in der er sein Haus vermutete. Genau wusste er es nicht. Die Flucht vor den Männern mit dem Gewehr durch den dunklen Wald hatte ihn verwirrt. Sahas presste sich an einen Baumstamm, dann lief er schnell zum nächsten, um sich dort zu verstecken. So konnte man ihn höchstens nur sehr kurz sehen. Immer wieder ließ er den Blick durch den Wald schweifen, ob irgendwo ein Mensch auftauchte. Schließlich bemerkte er, dass der Wolf ihm folgte. Er war ein großes Stück entfernt, drückte sich dicht an den Boden, aber wenn Sahas ein Stück weiterlief, tat der Wolf das auch. Irgendwie fand Sahas es beruhigend, dass der Wolf in seiner Nähe war.
Er war ziemlich lange von Baum zu Baum gelaufen, jedenfalls erschien es ihm so. War er so weit gekommen in der Nacht? Woher sollte er das wissen? Er war in seinem ganzen Leben noch nicht so weit vom Haus entfernt gewesen. Das war ein echtes Abenteuer, wie das von dem kleinen schwarzen Jungen, der mit einer Lokomotive um die Welt fuhr. Er hatte den Film auf Udgams Computer angeschaut.
Was war passiert? Warum war er plötzlich ganz allein? Sahas weinte. Nur ein bisschen und leise. Durch den Tränenschleier konnte er gar nicht mehr richtig sehen. Als er sich dann die Augen rieb, entdeckte er weit hinten zwischen den Bäumen etwas Dunkelrotes. Sein Haus.
Nun musste er sehr vorsichtig sein. Noch geduckter und noch schneller huschte er von Baum zu Baum. Der Wolf folgte ihm. Sahas kroch in ein Gebüsch, von dem er einen guten Blick auf sein Haus hatte. Was er beobachtete, machte ihm schreckliche Angst. Da waren Menschen, viele fremde Menschen. So viele Fremde kannte er nur aus Filmen, und Fremde waren gefährlich, das wusste er.
Es standen Autos auf dem Hof. Große Autos und die Menschen trugen Sachen aus dem Haus. Was taten sie da? Gehörten sie zu den Fremden, die gekommen waren, als Sahas noch im Haus war? Fremde kamen selten auf den Hof. Und Sahas hatte nie welche kennenlernen dürfen. Das wäre zu gefährlich, hatten ihm Kamini und Kala mal erklärt. Niemand außer Kamini und Om durfte mit Fremden sprechen. Auch Udgam und Garima nicht. Alle mussten in den Keller, wenn Fremde auftauchten, damit ihnen nichts passierte. Wenn sie dann dort unten waren, konnte man nie vorher wissen, wie lange sie dort bleiben mussten.
Die letzten Fremden hatten Unheil gebracht, an mehr erinnerte er sich nicht. Und er konnte sich auch nicht erklären, was plötzlich die ganzen Fremden in seinem Haus wollten. Er würde warten müssen, bis sie verschwunden waren. Und so lange hatte er eben Hunger. Das würde er schon aushalten. Der Wolf hielt es ja auch aus. Von der kleinen Maus war er bestimmt nicht satt geworden.
Sabine war abweichend von ihrem Dienstplan am Samstagmorgen um halb acht mit belegten Brötchen und hartgekochten Eiern in der Polizeistation erschienen. Frühstück für die Verdächtigen eins und zwei, Karsten Koslowski und Olaf Hohmann. Das hatte sie versprochen. Die beiden mutmaßlichen Wilderer saßen etwas zerknittert auf ihren Pritschen. Hohmann wirkte mutlos, Koslowski schaute sie herausfordernd an. Er ergriff auch sofort das Wort.
»Dürfen Sie uns eigentlich hier festhalten, so ohne Haftbefehl? Wir kennen unsere Rechte.«
»Mal cool bleiben«, sagte Sabine und stellte zwei Pappteller mit dem Essen und zwei Pappbecher mit Kaffee auf den kleinen Tisch in der Arrestzelle. Hohmann stürzte sich sofort auf das karge Buffet.
»Jetzt frühstücken Sie erst mal und dann sehen wir weiter. Und um Ihre Frage zu beantworten: Ja, wir dürfen Sie festhalten. Wir haben da draußen ein paar Tote, sie wurden vermutlich ermordet. Sie beide waren vor Ort. Bewaffnet. Sonst noch Fragen?«
»Ein paar?«, bellte Hohmann und verschluckte sich fast am heißen Kaffee. »Da waren doch nur zwei.«
Sabine schwieg.
»Aber Sie glauben doch nicht«, Hohmann wischte sich die mit Kaffee bekleckerte Hand an der Hose ab, »dass wir was damit zu tun haben? Wieso sollten wir …?«
Sabine unterbrach ihn. »Was ich glaube, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Das wird alles von meiner superschlauen Kollegin aus Lüneburg ermittelt. Und die wird sicher schon bald von den noch viel schlaueren Kollegen vom LKA in Hannover an die Wand gedrückt.«
»Echt, Sabine, so siehst du das?« Die Stimme hinter ihr gehörte eindeutig Jakob Metzger. Das war seine geheime Superkraft: sich unbemerkt anschleichen und einmischen. »Ich hätte von dir etwas mehr Verständnis für unsere ausgeklügelten Dienstwege erwartet.« Er trat in die Arrestzelle. Er sah besser aus als in der Nacht. Frisch geduscht, rasiert, in Uniform mit gebügeltem Hemd und vermutlich halbwegs nüchtern. Vom ersten Tag an duzte der alte Mann Sabine. Sie sprach ihn nur mit »Herr Metzger« an. Vermutlich hätte es ihm nichts ausgemacht, wenn sie ihn geduzt hätte. Hier auf dem Land war man nicht so förmlich. Aber sie schätzte ein wenig mehr Distanz zu ihren Vorgesetzten.
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