Die leitende Frage ist diese: Wie kommt man anständig und kreativ durch das eigene und durch das gemeinsame Leben? Und inwiefern kann Christsein hier inspirieren?
Der verlorengegangene Fokus: Lebensleistung
Damit sei bereits der erste Punkt gesetzt: Christsein ist eine Ressource für positive, gelingende Existenz. Und alles, was dazugekommen sein mag – komplizierte Dogmen oder schlichte Marienandachten, einschüchternde theologische Bibliotheken oder anpackende Sozialarbeiter-Nonnen, Weihnachtsläuten im Schnee oder Messdienerlager am See –, all dies will nichts anderes sein und bedeuten als eine Hilfe zum Leben. Noch der Gottesdienst, den man zur Ehre Gottes feiert und in dem eben nicht jeder Moment vor den Karren der gelingenden Biografie gespannt wird, entspringt einer existenziellen These: dass es nämlich zu sich hinführt, von sich wegzukommen.
Der übliche Beleg für diese Zentralstellung eines vollen, reichen, satten Lebens ist aus dem Neuen Testament der Ausspruch Jesu: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Aus dem Alten Testament kann man dieselbe Idee über die Rede von der andauernden Schöpfung beziehen, der creatio continua . Den bekannten ersten Vers der Bibel „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ kann man nämlich auch so übersetzen: „Als Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ – und schon nimmt das Ganze Fahrt auf. Leben ist Bewegung, Bewährung, Veränderung. Lebensfülle ist machbar, Herr Nachbar.
Aber Achtung: Hier wird es sprachlich schon brenzlig. Diese Rede vom ‚Leben in Fülle‘ oder vom ‚dauernden Anfangen‘ kriegt schnell Patina, klingt nach Predigt und Kalender und muss dringend aus einer drohenden Seichtigkeit gerettet werden. Daher schlage ich vor, einen weit unbequemeren Begriff anzupeilen: den der Lebensleistung.
Genau die Fixierung auf den Punkt der Lebensleistung ist dem Christsein hierzulande verlorengegangen. Darum wirkt es oft so einstudiert, weil man es wie einen Energydrink zu sich nimmt, ohne dass man für irgendetwas wachbleiben will.
Dabei ist es so simpel zu schreiben wie schwer zu tun: Menschen, wer und wo immer sie sind, müssen und wollen ihre Lebensleistung bringen. Ob wir es mögen oder nicht: Leben heißt performen. Je erwachsener Menschen werden, desto mehr geht ihnen auf, dass ihr Leben auf zwei Dimensionen eine Antwort geben muss: erstens auf die Belange anderer, ihnen zugeordneter Menschen, Situationen und Aufgaben (sei diese Zuordnung freiwillig und erfreulich oder nicht); und zweitens auf die in ihnen als Subjekte spürbaren Impulse, seien es Träume, Ängste, Grenzen oder Ideen. Menschen leben in dieser Doppel-Grammatik von ‚Widerstand‘ und ‚Impuls‘.
Unsere Situationen sind das Material, das in dieser Grammatik durchzudeklinieren ist Und die Vokabeln ‚Schönheit‘, ‚Krankheit‘, ‚Glück‘, ‚Liebe‘, ‚Versagen‘, ‚Armut‘, ‚Pflicht‘ usw. bilden manchmal Sätze mit Sinn – manchmal sogar stimmige Reime und ganze Gedichte –, oft, sehr oft aber auch versickerndes Geschwätz. Dann steht man vor den eigenen Lebenssätzen, sieht weder Satzbau, Punkt noch Komma und wünscht sich sehnlichst, dass kein Deutschlehrer um die Ecke kommt.
Man kann Bücher über Bücher darüber schreiben und Film über Film darüber drehen – es ändert doch nichts daran: Ein Leben lebt sich nicht von selbst; man muss Entscheidungen treffen, Antworten geben, Mitstreiter/innen finden, es mit sich aushalten und im Ganzen sein Glück versuchen. Und je mehr man sich dem stellt, desto mehr steht man in seiner Lebensleistung.
Und das heißt: Das Allgemeinste, was uns als Menschen verbindet, ist der Bedarf an Hilfen für die Lebensleistung. Darum ist jede und jeder interessant und nützlich, der hierzu einen Vorschlag einbringt: sei dieser philosophisch, religiös, skeptisch, lebenspraktisch, esoterisch, karrieristisch oder wie auch immer.
Die Christen gehören dazu. Sie haben eine Idee, wie ‚es‘ gehen kann. Und sie machen einen Vorschlag.
Die Christen und ihre Lieblingszahl: Drei
Diesen Vorschlag kann man nun in vielen Varianten rüberbringen. Das Christentum ist eine große komplexe Sache; es ist immerhin eine Weltreligion – und so viele gibt es davon nun auch nicht; es gliedert sich in unzählbare Konfessionen und Denominationen; es hat früher anders geschmeckt als heute; und natürlich hat auch noch jede und jeder seinen eigenen Reim aufs Leben, Christ hin, Christin her.
Um der Komplexität in diesem Buch gerecht zu werden, die Einfachheit aber nicht zu verlieren, möchte ich mir mit einem Projekt behelfen, das theologisch etwas aus der Mode gekommen ist: Ich werde eine Kurzformel ihres, der Christen, Glaubens entwickeln. So heißt es ja schon im Buchtitel. Was eine ‚Kurzformel‘ ist und was nicht, dazu später im nachfolgenden Kapitel.
Hier aber schon mal dieses: Wer den Christen begegnet, der stößt sehr schnell auf ihre Lieblingszahl – und das von Kiel bis Garmisch und von Syrien bis Tokio. Es ist die Zahl Drei. Diese Zahl muss ihnen etwas sehr Wichtiges bedeuten. Und darum muss jede Kurzformel, die den Punkt treffen will, diese Zahl aufmerksam beachten.
Einige Belege. Die Christen feiern drei große Feste im Jahr, Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Das sind ihre großen Christusfeste – die Zeit von Mai/Juni bis Dezember ist dagegen der Alltag, der ‚Jahreskreis‘. Egal ob Dorfkapelle oder Dom, in ihren Kirchen setzen sie mindestens drei fromme Stationen in Architektur um: eine inszenierte Eingangssituation (Portal, Vorhof, Weihwasser), einen Durchgang (Prozession, Gabenbereitung, Interaktion), einen Vorleseort und einen Altar (Lesung, Gebet, Wandlung, Segen). In ihrer Hauptfeier, der sogenannten Eucharistie, bekennen sie in einem zentralen rituellen Gebet das ‚Geheimnis ihres Glaubens‘. Es ist eigentlich selber eine Kurzformel (allerdings zu voraussetzungsreich), und zwar eine dreigeteilte: „(1) Deinen Tod, oh Herr, verkünden wir; (2) deine Auferstehung preisen wir; (3) bis du kommst in Herrlichkeit.“ Und nicht zuletzt bringen sie in das Gespräch der Religionen als Gottesvorstellung ein, dass ihr einer und einziger Gott in drei ‚Personen‘ (besser: Subsistenzen) antreffbar und wirksam ist: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die berühmt-berüchtigte Dreifaltigkeit.
Eine solche Häufung an so zentralen Stellen kann kein Zufall sein. Weitere Hinweise ließen sich anführen. Wir halten fest: Christinnen und Christen aktivieren zur Bewährung der Lebensleistung die Zahl Drei. Sie haben da irgendetwas entdeckt, was mit ‚Drei‘ zu tun hat.
Dies ist nicht banal und auch keine schlichte Mathematik. Es gibt buchlange Abhandlungen über das, was geschieht, wenn ‚der Dritte‘ dazukommt. Der große Begründer der deutschen Soziologie, Georg Simmel, hat zum Beispiel hierzu geforscht. Denn diese Zahl ist der Beginn des Sozialen: Sie fügt der möglichen Beziehung von jedem der ehemals beiden nicht nur einen weiteren Partner hinzu, sondern verändert auch die nun mehrfach möglichen Zweierbeziehungen fundamental. Es gibt jetzt Raum für Selbstfindung der beiden durch Öffnung; für Konflikt durch Verschließung; oder für Auflösung durch alternative Paarbildung.
Wie auch immer, dies ist keine Partnerschaftsberatung, und Soziologie ist zentral die Lehre von Organisation. Das Thema ist ‚Ressourcen finden für das Erbringen der Lebensleistung‘. Und da lautet ein erster Beitrag des christlichen Vorschlags: Nutze die Prozessdynamik der ‚Drei‘.
Die zentrale These: Christsein ist eine bestimmte Form von Lebensklugheit
Aus dem Fokus auf ‚Lebensleistung‘ folgt ein Zweites: Das, was wirklich fehlt, wenn die Christen fehlen, ist keine Lehre, sondern ein Weg. Das ist es, was uns abhandengekommen ist: Christsein ist eine klar fassbare Praxis. Eine Methode. Eine Lebensführungsweisheit. Eine Kompetenz. Dafür kann man werben: So wie man Lebensleistung nicht theoretisch, sondern nur existenziell performt, so kann auch eine kulturelle Ressource für Lebensleistung nicht irgendwie theoretisch genutzt werden. Keiner ist Christ im Schaukelstuhl. Man kann Wege schnell verstehen, und doch dauert es lange, sie zu gehen. Die Kenntnis des Weges hat die, die ihn gegangen ist, nicht der, der ihn auf irgendwelchen Karten nachschreibt.
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