Im Herbst 1966 liegt Heinrich Fueter erneut auf der Intensivstation des Zürcher Waidspitals. Der zweite Herzinfarkt. «Frühstück in der Notfallstation 06.00, Mittagessen 11 Uhr, Nachtessen 17 Uhr. Abend und Nacht endlos. Ein milder, geistig harmloser Schnarcher hat dem armen ‹Lärmer› Platz gemacht. Wir glauben, dass er gestern verstorben ist. Denn es sind Blumengebinde mit Schleifen gekommen …» Regie- und Requisitenfehler gebe es auch hier. «Axel muss im Laden nur richtig und genau bestellen! Ich meine, die Lilien besser ohne Schleife ‹Letzter Gruss›. […] Ich bin schon etwas down, so lieb sie auch alle zu mir sind […] Du hast hinter meinem … Rücken mit dem Professor telefoniert … er erkundigte sich nach meiner Psyche. Aber, aber, ich berichte Dir doch alles – ist mir doch zur Zeit der Beichtstuhl näher als der Rennsattel. Nicht einmal zum Flachrennen reicht’s.» Peter-Christian bricht sein Studium der Theaterwissenschaft ab, verzichtet zugunsten des väterlichen Unternehmens auf einen eigenen Weg und wird sich für den Spielfilm engagieren: 1976 für «Riedland» von Wilfried Bolliger nach dem Roman von Kurt Guggenheim, 1977 für «Violanta» von Daniel Schmid nach der Erzählung «Die Henkerin» von C. F. Meyer.
«Meine ferne Geliebte, aller guten Dinge sind 3! Da liege ich also wieder in diesem Wachraum», meldet er 1969 – und schildert auf gelben Condor-Nachrichtenzetteln den Nachbarn, die Geräusche, die Massnahmen. Alles Übrige wie in einer «bestgeführten, alten Familienpension». «Nur bekannte Gesichter, viel Sympathie und Lächeln und Lachen, ein organisiertes Kommen und Gehen, messen und kontrollieren, Pülverchen schlucken, stechen und einstellen. Alles wie gehabt! Mit einer etwas resignierten Apathie lässt man es geschehen.» Er habe sich so sehr aufs Engadin in dessen Herbstfarben gefreut, und mit der Arbeit wäre er «leidlich à jour» gewesen. – «Schon ist’s der 3. Tag und ich hab’ das Gefühl, dass der Wachraum noch ein wenig mein Stammquartier bleibt. […] Der Zimmerkollege wurde ausgetauscht – ich glaube, er ist dem Sargdepot näher gelagert worden. Jetzt schnarcht ein Herr Gross weiter nach dem 1. Infarkt – ein Anfänger also.» Draussen lichte sich über den Schrebergärten der Himmel. Aber die flammende Pracht des Engadins habe hier Mittelstandsniveau. Er fühle sich «behaglich verwöhnt». Alkohol werde vorläufig gelagert, «also sind Kranzspenden noch nicht erbeten».
«Das erste Mal waren viele enttäuscht, dass ich davongekommen bin», scherzt Heinrich später in einem Interview. «Das zweite Mal war die Spannung nicht mehr so gross, weil meine beiden Söhne bereits im Geschäft waren, auch beim dritten Mal – ach, man gewöhnt sich daran, und ich habe mich von den Schwestern im Waidspital mit einer Champagner-Party verabschiedet: À la prochaine!» Seine Freunde glauben nicht mehr an seinen Tod, dem er während Jahren immer wieder entkommen ist; denn kaum dem Spital entronnen, lebe und arbeite er erneut schonungslos.
1972, nach 25 Jahren, ist die Condor-Film AG zum grössten schweizerischen Filmproduktionsunternehmen angewachsen: gegen 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, 460 realisierte Filme, 270 national und international gewonnene Preise. Ein unternehmerisches Bravourstück, auf diesem «kommerziell schwierigen Gebiet» nie in die roten Zahlen geraten zu sein. Am Hochzeitstag schreibt Heinrich Fueter um drei Uhr morgens: «Mein Liebling – meine Hochzeitsmaid … während Du ruhst, denke ich zurück: 32 Jahre. ⅓ Jahrhundert, Zentrum unserer eigenen Wegstrecken. Ich danke Dir! Und beide wollen wir dankbar sein: kein Krieg, normale Kinder, Arbeit, oft Erfolg, Freunde, herzige Enkel und immer wieder beglückendes Zusammensein! Bleiben wir guten Mutes und Freunde in Liebe.» Ein halbes Jahr später, im September, liegt er wieder im Waidspital – und wünscht sich von seiner Frau jene Nachsicht, die sie vor einem Vierteljahrhundert von ihm erwartet hat. «Mein so geliebtes – und glaub es mir – über alles und allem! geliebtes Milein – rocher … meines siechenden Daseins», er baue seine «Lesehügel» ab. «Schmerzen, abgesehen von kleinen Bangigkeiten und nicht-organischen Herzbeschwerden, keine. Du wirst mir ja einen ‹offenen› Brief schreiben. Er wird sich decken mit jenen vielen, die ein ‹gescheiterer Heini› einem ‹dümmeren Heini› schreibt – tags und nachts. Leider sind weder Vernunft, Intelligenz, noch (das ist noch schlimmer) Stolz und Selbstachtung Waffen in diesem seltsamen inneren ‹Krieg›: einfach weil ich nicht fähig bin, diese Freundschaft oder Bindung oder Beziehung aufzugeben. Warum? Was weiss ich? (müsste es doch wissen), vielleicht weil ich … dieses sehr komplexe Wesen ganz einfach gern habe, es nicht missen möchte (was ja wohl auch nur ich verstehe). Alterserscheinung? Ich glaube allen Ernstes Nein, und zwar schon deshalb, weil es unsere Kreise (und das im grössten Ernst!) auch nicht im Kleinsten tangiert oder gar beeinflusst (dann würde ich es nur schon aus Dankbarkeit, aber vor allem aus Liebe und Verknüpfung … sofort abblasen). Es ist so etwas wie ein romantisches Jugend-Rückspiel – ein Vater-Tochter-Heimweh, ein schwärmerisch-verletzbares Spiel. Also näher kann ich es nicht deuten und auch dieser Versuch einer Charakterisierung ist sehr unvollkommen. Was es nicht ist (und das ist entscheidend) eine reife, tiefgreifende Mann-Frau-Beziehung (auch nicht force majeure!), eine Bindung oder Wunschbeziehung dieser Art. Ich wäre ja ein Narr und dazu noch ein Miesling. Wie kannst Du glauben, dass Du überhaupt und in besonderem in mir konkurrenzierbar bist! Sei nur ein wenig nachsichtig mit diesem grossen Kind. […] Lass Dich ganz fest lieb haben, ganz zart und dann leidenschaftlich (es war doch eine schöne, ‹junge› Zeit!) und dann still, dem Atem lauschend und den Schlaf erwartend! Dein (hoffentlich nicht so unverstandener) Heini.»
Ein Brief in Fortsetzungen. «Du weisst ja gar nicht wie gern ich Dich habe und jederzeit bereit bin, alles, was Dir wehtut, abzubrechen. Du bist mir viel zu viel Wert, als dass ich egoistischen Zielen, Vernarrtheiten und wohl auch Alterserscheinungen folgend, Dich – unsere Freundschaft, unsere Zusammengehörigkeit opfern würde. Du hast alle meine Wirrnisse, Verzweiflungen getragen, vor allem ertragen. Schon allein dies versetzt mich in Schuld. Aber es ist nicht Dankbarkeit hierfür, sondern auch hierfür, dass ich Dir beweisen möchte, dass mir niemand nähersteht, mich glücklicher machen kann als Du und nur Du.» Dass er sich für Menschen, die er möge, einsetze mit allen seinen Möglichkeiten, das wisse sie doch. «Ist es denn so erstaunlich, dass ich dies ebenso für ein mich begeisterndes und mich manchmal verzauberndes Geschöpf … tat? […] Es brauchte scheinbar all diese Auseinandersetzungen, Missverständnisse und Einseitigkeiten, um dorthin zu kommen, wo das differierende Alter und der ‹Überschwang› des älteren Herrn korrigiert landeten: in einer Freundschaft. In der vielleicht auch ein wenig das Vater-Tochter-Verhältnis seinen Platz beansprucht.»
«Ich weiss, Du hast es nicht so leicht mit mir, aber (ich kann ja das Maliziöse nicht lassen!) auch nicht so schwer. Innerhalb bald 35 Jahren würde ich sagen: 25:10. Es gibt doch einiges, was ich … in meinen blühendsten Jahren sehr artig verkraftet habe … auf viel schwerwiegenderen Ebenen. Eine junge, sehr junge Liebe und Gemeinschaft stand auf dem Spiel – etwas, das bei mir nie, gar nie nicht einmal zur Diskussion stand. Warum? Weil ich Dich im tiefsten entscheidendsten Grunde liebe, mehr als alles und alle. Deine unverbrüchliche Freundschaft (sie zeigt sich ja gerade jetzt wieder!), Deine menschliche Einfühlsamkeit, Grosszügigkeit und Verständnisweite. Wir gehören zusammen! … Du bist und bleibst in jeder Beziehung die prima donna.» Vielleicht sei sie früher weiser geworden, «aber lächle milder über den Deinigen, der halt noch einmal ein wenig schwärmt, sich verstrickt […] Spitalnächte haben den Vorteil, Einsichten zu schaffen. Nur Freundschaften lass ich nicht gern kaputt gehen, schon weil ich sie immer mit viel Begeisterung und Opferbereitschaft, Herz und Zugetanheit baue. Sei umarmt, lieb gehabt & 1000 – 1000mal bedankt, geküsst, bewundert & GELIEBT von Deinem merkwürdigen und sicher nur undankbar scheinenden Heini».
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