Peter-Christian und Martin, ab 1949 auch Daniel, erhalten viel Platz in Heinrich Fueters «Haus- und Hofnachrichten», ihre Fortschritte, Bonmots, Erlebnisse, ihre Krankheiten. «Die Kinder sind bezaubernd: Jedes in seiner Art. Ich weiss nicht, ob ich Dein Wegsein, das mir diesmal doch ordentlich zu schaffen macht, so … ertragen würde, wenn diese zwei Strupfs nicht da wären. Das Leben ist so kurz. Die Aussichten, die allgemeinen weltpolitischen so grau, dass man an den guten Tagen hängt!» – «Die Buben waren mir in ihrer Papibegeisterung Ersatz für manchmal fehlende Autosuggestion.» Er schickt Zeichnungen mit, später rapportieren die Kinder selbst ihr Tun und Lassen, liebevoll, witzig, selbstironisch. Schreiben auch mal französisch, englisch, lateinisch. Doch in jeder Sprache und Tonlage spiegeln die Briefe ihre innige Beziehung zur Mutter wieder.
Während der Theatersaison lebt Anne-Marie Blanc in Zürich, spielt 1939 in zehn Produktionen des Schauspielhauses mit, 1940 in acht, 1942 in zehn – und so fort bis Anfang der 1950er-Jahre. «Gestern habe ich den ganzen Tag mit Schreiben, Buchhaltung und Flicken verbracht», berichtet sie ihrem Mann, «und stellte fest, dass alles Geld wieder verschwand. Dir habe ich 150 Franken überwiesen. Wenn dieser Frankreichbeitrag nicht zustande kommt, ist die Pleite da. Bete zu Gott! Sonst kriegst du gleich 500 Franken, damit du dir einen schönen Mantel kaufen kannst». Heinrich bekommt den Mantel. Im April 1946 spielt Anne-Marie in Paris mit Erich von Stroheim im Film «On ne meurt pas comme ça». – «Mein Liebling, hier ist das Bahnticket, leider ist kein Flugzeug zu haben. Ich erwarte dich also Freitag in der Früh.» – «Mein liebstes poetisches Männchen», sie wolle ihn nicht mit familiären Sorgen belasten, er habe an ihr «genug Nüsse» zu beissen. «Aber ich glaube, dass ich jetzt wieder vernünftig bin», ihr Pariser Aufenthalt sei mit «dem Leben einer jungen Klosternovizin» zu vergleichen. Sie sei sogar enttäuscht, dass man sich so wenig um sie kümmere, «aber es ist recht so. Ich kann in mich gehen, meine Sünden bereuen und mich nach dir sehnen! […] Ich bin so froh, dass ich dich hab. Ich weiss schon, wie gut das ist, auch wenn ich manchmal spinne. Ich bin jung und war nur einmal verliebt in meinem Leben, darum finde ich es noch reizvoll, wenn es sich wiederholt. Hätte ich deine Erfahrenheit, würde ich es nicht mehr beachten!»
«Mein Herz», schreibt sie im Herbst 1946 aus England, wo sie im Film «White Cradle Inn» spielt, in dem es um französische Kinder geht, die in den Kriegswirren ihre Eltern verloren haben, von Pflegeeltern in der Schweiz betreut werden – und nach Kriegsende zurück in ihre Heimat müssen. Sie gehe abends oft aus. «Aber ganz manierlich, nur keine Bange!» Dankbar ist sie um Heinrichs Vorschläge für einen Vertrag. «Du bist doch ein sehr kluges Männchen und ich habe recht gehabt, dich zu heiraten!» Er habe immer recht, sie werde weiterhin nur auf sein «hartes Urteil» hören – und hofft, er könne wieder mehr mit ihr arbeiten. «Ich will und muss eine gute Schauspielerin werden. Und wenn es gelingt, dann wird es zum grossen Teil dein Werk sein!» Nun, er kümmert sich gerade um die erkälteten Kinder. «Verlieb Dich nicht zu schnell, sonst ist Dein halb-knock-outes Männchen bald ausgepunktet. Aber ich freue mich irrsinnig, wenn bei Dir alles gut geht. […] Ciao, ciao, ciao, ich hab’ Dich lieb wie beim ersten Rendez-vous.» Manchmal ist er enttäuscht, gar traurig über sein etwas schreibfaules, mit Nachrichten persönlicher, um nicht zu sagen persönlichster Art «sehr, sehr – ja ungeheuer, zurückhaltendes Frauchen». Er melde ja jeden getrunkenen schwarzen Kaffee.
Wiederkehrend betont er, ihr Erfolg sei für ihn das Wichtigste, Erfreulichste. «Wen das eigene Leben nicht befriedigt, der geht im Leben der anderen auf!» Ihr geht es ähnlich: «Du weisst nicht, was es für mich bedeutet, wenn du gut dran bist.» Sie erliegt seinem «tyrannischen Charme», ergötzt sich an seinem Witz, staunt über seine «schriftstellerische Ader». Ist stolz, dass er sie immer noch «so gut» leiden mag. Und unterzeichnet wie oft mit der Rückenansicht eines Hasen. Sie freut sich über eine neue Rolle, weil sie «alles andere als Zuckerpüppchen» ist und sie sich als Charakterdarstellerin ausprobieren könne. Sie ängstigt sich um Heinrichs labile Gesundheit, sein schwaches Herz, seine «übermässige Belastung». Fragt nach den Kopfmassen der Kinder, um Mützen zu kaufen. Sie schildert gute Hotels, schlechte Hotels, Treffen mit Freunden, Kinobesuche, Sightseeingtouren. Es geht um Verträge, Honorare, Steuerfragen. Rollenstudium, Fototermine, Interviews, schlechte Kritiken, Bravorufe, leere und halb leere Säle. Sie klagt über miese Stimmung in gewissen Theatern, unfähige Regisseure, schlechte Proben. Vor allem über ihre Einsamkeit. Gegenseitig ermutigen und trösten sie sich – aus fast jedem Brief klingt die «grosse Sehnsucht» nach dem anderen. «Ich habe natürlich nach Dir Heimweh», klagt Heinrich – «ich habe, es ist grotesk, wenn ich das sage, auch Heimweh nach Dir, wenn ich bei Dir bin, weil das Leben uns auffrisst mit Pflichten und Nöten, sodass das ‹Für sich Sein› rar ist. Es müssten schon Ferien sein … Tage für uns, zeitlose, programmlose Tage der Zweisamkeit. Darnach habe ich oft Sehnsucht. Lieberes kann ich Dir nicht sagen. Es ist darin nach 7 Jahren alles enthalten, was seit dem ersten Tag mich an Dich band: Dass Du mir genug bist! Ich liebe Dich über Alles.»
Sie denke oft an ihn, auch wenn sie nicht viel «schreibe und flirte», schreibt Anne-Marie im August 1948. «Ich hoffe für dich und deine romantischen Venedig-Tage, dass du auch so eine seelenverwandte Jungfrau (ein- oder zweideutige!) gefunden hast, denn so allein am Meeresstrand zu sitzen scheint mir für dich nicht das richtige zu sein. […] Tausend liebste Küsse – ich sehne mich nach Dir! Grüss mir die süssesten Kinder Zürichs. Sie sollen ihre Rabenmutter nicht vergessen.» Die «Rabenmutter» ist auf Tournee, der Hausmann stolz auf die erste eigene Produktion seiner jungen Firma: «Grat am Himmel». Spektakuläre Aufnahmen einer 35-Millimeter-Kamera aus 4000 Metern Höhe. Die Zuschauerin erlebt die Traversierung des Mittellegi-Grates auf dem Weg zum Eiger aus der Sicht der Bergsteiger. Der Kurzfilm ist über die Schweizer Grenze hinaus erfolgreich. Dazu der erste Grossauftrag: tägliche Reportagen über die Olympischen Winterspiele 1948 in St. Moritz für BBC und NBC. Condor übt das Fliegen.
«Es geht schon gegen Mitternacht, aber ich muss Dir doch noch schnell schreiben.» Der Brief wird sechs Seiten lang. Heinrich erzählt von Peter-Christians Zeugnis, seinen Fähigkeiten; von Martin, der zwei Stunden lang Schiffe zeichnet und perfekt das Vaterunser beten kann, nicht ohne maliziöse Zwischenbemerkungen. Von der Haushälterin. «Frl. B ist unersetzlich. Was soll einmal werden, wenn sie nicht mehr da ist, frage ich mich oft. Unser Leben wäre mit jemand anderem in der jetzigen Form gar nicht realisierbar. […] Es waren zwei gute Tage – gestern Dein Anruf, heute Dein Expressbrief. Schimpf mich kindisch, glaube mir, ich weiss vielleicht zum ersten Mal, was die grosse, grosse, letzte Liebe für einen Menschen ist.» Das Paar denkt gerade über seine Beziehung nach. Anne-Marie ist mit Ibsens «Gespenster» auf einer ausgedehnten Tournee durch Holland. Sie ist 29, seit gut acht Jahren verheiratet. Er quäle sich unverhältnismässig, beruhigt sie ihren Mann: Sie könnte keine freundschaftliche Beziehung haben zu jemandem, der sich mit Absicht «zwischen uns» schalten würde. «Wir haben uns gut verstanden, haben gemeinsame Lektüren, er hat sich um mich gekümmert – und das alles wohl, weil er mich gerne hat, aber er hat nie daran gedacht, etwas zu fordern, was ich nicht von mir aus bereit wäre zu geben. Meine Zurückhaltung und die Rücksicht, die ich auf dich nahm, waren ja auch Dinge, die ihm besonders gefallen haben und die ihm sehr verständlich waren.» Sie habe sich sehr an ihn «attachiert», aber es sei kein Grund, «diese Affäre» zu dramatisieren, jedenfalls bitte nicht von «Platz räumen» reden und «Kugel durch den Kopf jagen». «Für mich steht fest, dass keine andere Lebensgemeinschaft besser sein könnte als mit dir. Was ich mit dir erlebt und aufgebaut habe, könnte ich nie abschütteln.»
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