3.
Die Regierungstechnik des kulturell hegemonial gewordenen Kapitalismus appelliert nun aber nicht nur an das unternehmerische Kalkül im Selbst, so sehr es dem Individuum auch vorspiegelt, auf dieser Ebene souverän zu agieren, und seinen sujet -Status verschleiert. Die kapitalistische Regierungstechnik arbeitet noch auf einer verborgeneren und schwerer zu erhellenden Ebene: jener der Gefühle und Sehnsüchte der Regierten. Kulturell hegemonialer Kapitalismus meint also nicht nur, dass sich die Logik und die Mechanismen des Marktes in immer mehr gesellschaftliche Teilsysteme ausbreiten und deren Eigenlogiken unterwandern und überformen, was natürlich offenkundig der Fall ist und wofür die Universität mit ihrem akademischen Kapitalismus, 47die öffentliche Verwaltung mit dem new public management 48und der Spitzensport paradigmatisch stehen.
Es geht vielmehr auch darum, „wie die Marktperspektive unsere Gefühlswelt beeinflusst“ 49. Die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild hatte bereits 1983 mit The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling als eine der ersten eine empirisch basierte Studie dazu vorgelegt. Ihr Fazit: „Wir übertragen die Regeln und Muster unserer Gefühlsarbeit aus dem Leben auf dem Markt auf unsere nicht-marktförmigen Lebensbereiche . Wir leben unser nicht-marktförmiges Leben so, als ob wir einkaufen, Waren erwerben oder wegwerfen.“ 50
Russell Hochschild unterschied dabei noch „gespielte Gefühle“ von „realen Gefühlen“, das „wahre Selbst“ vom „falschen Selbst“ 51. Sighard Neckel weist in seiner Einleitung zur deutschen Neuauflage ebenso vornehm wie zu Recht darauf hin, dass diese Unterscheidung einige „kompliziertere Probleme“ aufwerfe. Denn auch „authentische Emotionen“ seien „soziale Konstrukte“, die von „gesellschaftlich erlernten Bewertungsmustern und Ausdrucksregeln schon mitgeprägt worden sind.“ Emotionen werden, so Neckel, „daher von feeling rules nicht erst nachträglich überformt“, sondern diese feeling rules „gehen bereits in die Konstitution unserer Gefühlswelt ein“ 52. Der „emotionale Kapitalismus unserer Zeit“, so Neckel, „steht ganz im Zeichen einer Optimierung der Gefühle zugunsten persönlicher Durchsetzungskraft und des Erfolgs im Marktwettbewerb. Aus der emotionalen Selbstfindung, die einst die postmaterialistische Phase der kulturellen Liberalisierung propagierte, wurde das emotionale Selbstmanagement, dem nichts wichtiger ist, als mentale Ressourcen für die Erlangung sozialer Vorteile zu nutzen.“ 53
Eva Illouz hat in ihren Studien zum „emotionalen Kapitalismus“ 54diese Forschungslinie aufgegriffen und weitergetrieben. „Der emotionale Kapitalismus“, so dann Illouz, „ist eine Kultur, in der sich emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken gegenseitig formen.“ 55Diese gleichstufige Wechselseitigkeit zu betonen ist wichtig. Denn sie bringt jene „breite Bewegung (hervor), die Affekte einerseits zu einem wesentlichen Bestandteil ökonomischen Verhaltens macht, andererseits aber auch das emotionale Leben … der Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse unterwirft“ 56. Liebe in Zeiten des Kapitalismus ist eben Liebe in Zeiten des Kapitalismus – und nicht einfach Liebe.
Was für die Liebe, dieses scheinbar Innerste des spätmodernen Menschen, in Zeiten des Kapitalismus gilt, das gilt nun aber auch für die Religion und den Glauben in Zeiten des Kapitalismus: Sie werden von jenem geprägt, zutiefst und zuinnerst. Denn die Priorität, die Macht, die Dominanz liegen beim Kapitalismus. „Der heutige Hyperkapitalismus löst die menschliche Existenz gänzlich in ein Netz kommerzieller Beziehungen auf. Es gibt keinen Lebensbereich mehr, der sich der kommerziellen Verwertung entzöge. Der Hyperkapitalismus macht alle menschlichen Beziehungen zu kommerziellen Beziehungen.“ 57
Der kulturell hegemoniale Kapitalismus ist souverän, nicht zuerst, weil er sich, wie der Staat, des äußeren Machtapparates bemächtigt, sondern weil er sich der Menschen auf einer viel wirksameren Ebene bemächtigt, jener, die sie zu dem macht, was sie sind: Er bemächtigt sich ihrer Sehnsüchte und Hoffnungen, ihrer Ängste und Nöte. Er formt bereits Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute und dann befriedigt er sie, er gibt all dem Sprachen, Bilder und – Erfüllung: und das konkret und fassbar.
Der kulturell hegemoniale Kapitalismus arbeitet im Übrigen exakt dort, wohin sich auch die Kirchen gerettet hatten, als der moderne Staat ihnen als Souverän die äußere Macht nach und nach nahm: auf jener Sehnsuchts- und Gefühlsebene, die man christlich Frömmigkeit nennt. Der Protestantismus schrieb sie tief in die Person und ihr Gewissen ein, der Katholizismus in seine nachreformatorisch medial immer subtiler aufgerüsteten Räume und Sozialformen, über die er dann deren Bewohner und Bewohnerinnen regierte.
Der Kapitalismus freilich ist so klug, sich weder ans protestantische Gewissen noch an kirchenanaloge Sozialformen zu heften, so sehr er bekanntlich mit den Formen, Diskursen, Techniken und Medien der Religionen spielt und diese nutzt. Aber festlegen lässt er sich nicht, dazu ist er zu anti-essentialistisch. Die Strategien der Wunschproduktion, Sehnsuchtserfüllung und Kontingenzbewältigung des kulturell hegemonialen Kapitalismus sind effizienter, flexibler, anschaulicher, adressatenorientierter, liquider als jene der Kirchen. Sie sind auch nicht traditionsbehindert.
Der Kapitalismus ist, wie sein zentrales Medium, das Geld, die anti-essentialistische Formation überhaupt. Schon Georg Simmel hatte in seiner Philosophie des Geldes 1900 zur Rolle des Geldes im Kapitalismus festgehalten: „Indem sein Wert als Mittel steigt, steigt sein Wert als Mittel, und zwar so hoch, daß es als Wert schlechthin gilt und das Zweckbewußtsein an ihm definitiv haltmacht. Die innere Polarität im Wesen des Geldes: das absolute Mittel zu sein und eben dadurch psychologisch für die meisten Menschen zum absoluten Zweck zu werden, macht es in eigentümlicher Weise zu einem Sinnbild, in dem die großen Regulative des praktischen Lebens gleichsam erstarrt sind.“ 58Für Simmel folgen aus diesem anti-essentialistischen Radikalrelativismus Entgrenzung, Quantifizierung, Entsubstantialisierung und Rationalisierung.
Auf der Basis dieser Überlegungen kann der Begriff des kulturell hegemonialen Kapitalismus präzisiert werden. Der Begriff kulturelle Hegemonie wurde bekanntlich von Antonio Gramsci geprägt. Bei ihm besitzt dieser Begriff in marxistischer Tradition eine stark normative, anti-kapitalistische Stoßrichtung. Er bezeichnet bei Gramsci jenen vorherrschenden gesellschaftlichen Konsens, den die kapitalistische Klasse über diverse zivilgesellschaftliche Institutionen wie das Bildungssystem, die Künste, die Kirchen, die Medien, auch das Erziehungssystem herstellt, um seine Herrschaft als legitime, ja als einzig wirklich mögliche zu plausibilisieren. Ernest Laclau und Chantal Mouffe kritisieren daran zu Recht spezifische „essentialistische Elemente“ 59, so das Festhalten am Klassenbegriff als Identifikation der hegemonialen (und anti-hegemonialen) Akteure und auch die damit unmittelbar verbundene Annahme, dass „jede Gesellschaftsformation sich um ein einfaches hegemoniales Zentrum herum strukturiert“ 60. Ihre poststrukturalistische Überarbeitung und Radikalisierung von Gramscis Hegemonietheorie lösen diesen Essentialismus auf und bestehen darauf, dass „das Soziale … ein unendlicher Raum ist, der auf kein ihm zugrundeliegendes einheitliches Prinzip reduziert werden kann“ 61. Laclau/Mouffe bestehen zudem darauf, dass eine „hegemoniale Formation … auch das (umfasst), was sich ihr entgegensetzt, insofern die entgegengesetzte Kraft das System der grundlegenden Artikulation dieser Formation als das von ihr Negierte akzeptiert, der Ort der Negation jedoch durch die inneren Parameter der Formation selbst definiert ist“ 62.
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