Die einstmals jesuitische Universität Freiburg im Breisgau ist eine der ältesten im süddeutschen Raum. Freiburg war ein katholischer Flecken in einer weitherum pietistisch angehauchten Landschaft. Das Klima in der Stadt Freiburg musste Joller von Luzern her bekannt vorkommen. Eine Gruppe akademisch geschulter Juristen bildete den Kern einer katholisch-liberalen Bewegung, die insbesondere den Vorrang des Staates gegenüber dem Klerus betonte und den Einfluss der konservativen römischen Kurie innerhalb der Kirche zurückdrängen wollte. In diesem Klima begann Joller seine Studien, begleitet vom gleichaltrigen Franz Bali aus Buochs.
Franz Bali hatte bereits ein Jahr Studium in München hinter sich. Ob er es war, der Joller zu einem Studienjahr in München animierte? Jedenfalls fand sich Joller im Wintersemester 1839/40 und im Sommersemester 1840 als Student der Rechtskunde an der Ludwig-Maximilians-Universität in der bayrischen Residenzstadt. Er wohnte in einem Zimmer an der Neuhauserstrasse 24, zehn Minuten zu Fuss vom kurz zuvor errichteten Universitätsgebäude entfernt. Dort wohnte er auch Vorlesungen aus anderen Fächern bei, wie sein Hinweis auf die «bestaubten Collegienhefte von Professor Sieber [sic!] in München über Experimentalphysik» belegt. Der Benediktinerpater Thaddäus Siber war nicht nur Professor für Physik, sondern mehrfach auch Rektor der Münchner Universität. Kaum in München eingetroffen, hatte Joller im August 1839 die Möglichkeit, an einer Aufsehen erregenden Ausstellung das ganz neue Verfahren der Daguerreotypie kennenzulernen. Für die Zeitgenossen grenzte es an ein Wunder, wie die ersten Fotografen mit dieser Technik ohne Pinsel und Farbtöpfe, sozusagen allein mit dem Licht, in kurzer Zeit ein realistisches Abbild entstehen lassen konnten. Mehr als die Chemie dahinter faszinierte die Magie des herbeigezauberten Bildes.
Zurück in Freiburg, schrieb sich Melchior Joller für das Wintersemester 1840/41 und das Sommersemester 1841 wieder an der Universität ein, diesmal an der Juristischen Fakultät. Im Wintersemester besuchte er unter anderem eine Vorlesung über Strafrecht und Strafprozess bei Professor Johann Georg Duttlinger: Als liberaler Abgeordneter zum badischen Landtag brachte Duttlinger seine rechtswissenschaftlichen Kenntnisse in die praktische Gesetzgebung ein. Er war sehr geachtet, seine Vorlesungen galten als äusserst übersichtlich und klar. Das Parlament wählte ihn 1841 gar zu seinem Präsidenten, doch starb er bereits im August 1841 im Alter von 53 Jahren. Im Sommersemester 1841 besuchte Joller die Vorlesung von Leopold August Warnkönig über das Völkerrecht und die Geschichte des europäischen Staatensystems. Warnkönig war ein weitgereister und vielseitig interessierter Rechtshistoriker, der auf Deutsch, Französisch und Latein publizierte. Der liberale Katholik befasste sich unter anderem einlässlich mit der staatsrechtlichen Stellung der katholischen Kirche.
Schliesslich hörte Joller Staatsrecht bei Professor Karl Theodor Welcker. Dieser war, wie Duttlinger, Abgeordneter zum badischen Landtag, wo er sich insbesondere dem Kampf gegen die Pressezensur widmete. Gemeinsam mit seinem Professorenkollegen Karl von Rotteck gab er für kurze Zeit die Zeitung Der Freisinnige heraus, die aber sehr bald verboten wurde. Sein gewichtigstes Werk war, ebenfalls in gemeinsamer Arbeit mit Rotteck, das Staatslexikon. Zwischen 1834 und 1843 arbeiteten die beiden daran, der bürgerlichen Öffentlichkeit alle Aspekte des Staates, seiner Organisation und seiner Funktion aus ihrer liberalen Sicht darzulegen. Viele bekannte Juristen und Politiker ihrer Zeit lieferten Beiträge, unter anderen auch Kasimir Pfyffer aus Luzern. Es waren noch nicht alle 15 Bände erschienen, als Joller in Freiburg bei Welcker studierte. Jollers Staatsrechtslehrer bündelte also die aktuellsten liberalen Ansichten und Argumente im gesamten deutschsprachigen Raum.
Aus diesen Elementen hatte sich Jollers Weltbild geformt, mit dem er im Sommer 1841 nach Stans zurückkehrte. Einen Abschluss hatte er nicht in der Tasche, doch war dies für seine Zukunftspläne nicht notwendig. Joller war von seiner Bildung her ein kritischer und primär auf die damalige rational-naturwissenschaftliche Linie eingeschworener Geist. Es sei «die ewig frische Quelle der Forschung», schrieb er, «aus der ich in so mancher unmuthvollen Stunde neue Stärkung schöpfte». Als guter Katholik und gesättigt mit romantisch grundierter Philosophie, hatte er jedoch in einem Winkel seines Herzens einen kleinen Platz für die Faszination magischer Vorstellungen offen gelassen.
DIE FAMILIE JOLLERIm Umfeld der ersten zaghaften Erscheinungen vom Herbst 1860 erwähnt Joller zum ersten Mal seine Frau, mit der er zu diesem Zeitpunkt fast zwanzig Jahre verheiratet war. «Als ich von einem Geschäfte, das ich auswärts zu besorgen hatte, nach Hause kam, erzählte mir meine Frau, dass ihr und der zweitältesten Tochter letzte Nacht etwas Sonderbares begegnet wäre.» Ein rasches und häufiges Klopfen an den Tisch neben dem Bett habe sie und die Tochter, die mit ihr in der Kammer schlief, aufgeweckt. «Ihre Verwunderung habe sich bis zur Angst gesteigert, wobei sie noch einmal zu klopfen aufforderten, wenn es etwas zu bedeuten habe, worauf sich dasselbe in gleicher Weise wiederholte. Sie hätten sich jetzt beide sehr gefürchtet, und mit schwerer Angst dem Morgen entgegengeharrt.»
Joller lernte die um zwei Jahre jüngere Karoline Wenz während seines Studiums in Freiburg im Breisgau kennen. Sie stammte aus einer Familie der kirchlichen und staatlichen Verwaltungsbürokratie in Baden. Ihr Vater Bernhard Wenz war Teilungskommissär, ihr Onkel grossherzoglicher Kanzlist, der Grossvater fürstbischöflicher Kanzleirat, und der andere Grossvater, der Vater ihrer Mutter Elisabeth Chorhummel, amtete als Stadtsyndikus. Die Verbindung mit der Familie Wenz zeugt von Jollers Interesse an der Staatsverwaltung und an der praktischen Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie barg zudem in ihrem Kern einen Gegensatz zwischen zwei sehr verschiedenen Formen des Glaubens. Karoline Wenz wuchs im Umfeld einer kirchlichen Hierarchie auf, die den Glauben stark an das Vertrauen in die Institutionen band. Joller stammte aus einem Gebiet mit starker gemeindekirchlicher Tradition, zudem war er überzeugter Liberaler. Sein Glaube bestand eher im Vertrauen auf den individuellen Heilsweg über das «gute Leben» und die Sakramente. Der kirchlichen Ordnung gegenüber, insbesondere soweit sie den Bereich der Pfarrei überstieg, hegte er grosse Skepsis. Joller las seinen Kindern aus Zschokkes Andachtsbuch vor, nicht aus den frommen katholischen Traktaten seiner Zeit.
Joller und Karoline Wenz heirateten am 7. November 1842. Karoline zog in die Spichermatt, wo ein Jahr später, am 20. Dezember 1843, der erste Sohn Robert zur Welt kam. Dieser war in der Zeit der «mystischen Erscheinungen» beinahe volljährig, lebte aber noch im Vaterhaus. Joller stellte in seiner Schrift seine Kinder eines ums andere kurz vor. Die älteste Tochter Emaline wurde am 5. Oktober 1845 geboren. Die zweitälteste war Melanie, die am 6. Mai 1848 zur Welt kam. Sie trug einen für die Zeit ungewöhnlichen Namen, der zudem ein Anagramm des Namens ihrer älteren Schwester Emaline ist. Die dritte Tochter kam am 12. März 1850 zur Welt. Sie ist mit vier verschiedenen Schreibweisen ihres Namens überliefert: Von der Magd wurde sie Heinricke genannt, im Stammbuch des Nidwaldner Staatsarchivs ist sie als Heinrika verzeichnet, Joller nennt sie Henrika, und Fanny Moser schreibt von Henricke. Am 13. Oktober 1851 folgte Eduard, am 4. Februar 1853 Oskar. Schliesslich wurde am 23. November 1858 der jüngste und letzte Sohn geboren, Alfred.
Karoline Joller fühlte sich in Stans nicht wohl und hatte auch zu ihren eigenen Kindern keine innige Beziehung. Wenigstens wurde dies in Stans herumerzählt. Henrika sei von der Mutter am wenigsten geliebt worden, berichtete Moser. Dem Tagebuch Zelgers ist einer der Gründe zu entnehmen, warum Karoline in Stans nicht glücklich wurde: Sie wurde zum Teil heftig abgelehnt. Zelger berichtet von wutschnaubenden Predigten des Pfarrhelfers Franz Josef Gut (1794–1871), «die von der maaßlosesten Selbst Vergötterung und von den pöbelhaftesten und unchristlichsten Ausfällen gegen die Liberalen angefüllt» waren. Und in einer solchen Predigt, am Freitag, 12. Oktober 1849 zum Fest des heiligen Remigius, habe Gut gegen die grossen Städte gewettert, die mit Verdorbenheit angefüllt seien. Und dann habe er geklagt, dass Söhne zur Ausbildung «gut in solche Städte gegangen und verdorben heimgekommen wie sie statt als Geistliche mit einer armseligen elenden Heurath zurükgekehrt seien!!!» Sogar Walter Zelger war ob einem solch derben Schlag gegen Melchior und Karoline Joller entsetzt, wie seine drei Ausrufezeichen im Tagebuch deutlich machen.
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