Antonello da Messina Ritratto d’Uomo (zwischen 1465 und 1476), Museo Mandralisca, Cefalù, Sizilien.
Enrico Deaglio
Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika
Essay
Aus dem Italienischen von
Klaudia Ruschkowski
Für Suzanne und Albert Paxton
1Vor dem Lynchkommando
2Das Gemälde von Antonello
3Der sechste Mann
4Die Nachricht ging durch die Zeitungen …
5Sklaven, Generäle, Land, Zucker und Baumwolle
6Im Schädel der Dagos
7Die Geburt einer »Rasse«
8Seltsame Früchte
9Inspektionen und damit verbundene Handlungen
10Kreuzabnahme
11Eine Mission im Auftrag des Königs
12Epiloge, oftmals unerwartet
Thanks to alla frienda
Statt einer Bildlegende
Die Schlinge lag bereits um Frank Defattas Hals, und sie hatten ihm auch eine Zigarre in den Mund gesteckt. Er wandte sich an die Menge und schrie in dem gebrochenen Englisch der Dagos :
»I liva here sixa years. I knowa you all. You alla my frienda.« Mit einem schroffen Ruck zogen sie ihn in die Höhe, das Seil scharrte über die Rinde der Pappel, und Frank hörte auf zu schreien. Die Zigarre fiel aus seinem Mund, und er begann zu husten. Während dieser wenigen Sekunden glaubte er jedoch noch immer, dass sie ihn herunterlassen würden: Er kannte sie, jeden Einzelnen von ihnen, seit sechs Jahren waren sie alle seine Freunde.
Er dachte nicht, dass seine Geschichte hier schon zu Ende wäre, er glaubte vielmehr, dass sie ihm nur Angst einjagen wollten, ihm und seinen Brüdern, dass er am Leben bliebe, um die Sache viele Jahre später zum Besten zu geben: Wie sie ihn unerwartet vor dieses Lynchkommando gestellt hatten. Er hätte nicht von seinem Vater angefangen, von der Kälte und den Zigeunern. Nein, er hätte erzählt, wie die Welt von oben aussieht, so, wie Christus sie vom Kreuz aus sah. Man brauchte nur ein Stückchen hinaufzuklettern, und schon wurden die Menschen so klein, während sich andererseits die Erde in ihrer ganzen Größe auftat, die endlose Ebene, die gelbe Biegung des großen Flusses und zugleich die Distanz von der Welt, von zu Hause.
Er hätte erzählt, dass er sich in einem Traum in dem großen alten Dom seines Städtchens gesehen hatte, als Kind an der Hand seines Vaters Nicolò, unter dem riesigen Antlitz des Christus Pantokrator, zusammengesetzt aus Millionen von Mosaiksteinchen, kleine goldene Punkte, die Kinder und Seeleute bei Unwetter beschützen. Und es schien ihm jetzt, als hätte die segnende Hand dieses Christus zwischen Zeige- und Mittelfinger schon immer eine Zigarre gehalten.
Doch die da unten lockerten das Seil nicht, im Gegenteil, sie zogen es an. Und so starb Frank Defatta unter Husten, während ihm die Augäpfel aus den Höhlen quollen. Ein Stück entfernt hatten sie gerade auch seine Brüder aufgehängt, und jetzt kamen noch die beiden letzten an die Reihe. Die große Pappel diente in den vergangenen Jahren immer demselben Zweck. Gut ein Dutzend Schwarze – Aufständische, Vergewaltiger, Diebe – hatten dort ihr Ende gefunden, und vielleicht waren die Brüder Defatta unter denen gewesen, die diese Szenen von unten beobachtet hatten. Jetzt also hatten sie fünf Dagos aufgehängt. Dagos , eine abwertende Bezeichnung für die Sizilianer, die als eine besondere Art von Schwarzen galten. Damals wie heute machen die Schwarzen etwa achtzig Prozent der Bevölkerung von Madison Parish *aus.
Es herrschte eine große Hitze an jenem Sommerabend des 20. Juli 1899. Die Nachrichten wurden mit vielen Stunden Verspätung in den Telegrafen gehämmert, nämlich erst, nachdem man dem Telegrafisten die Augenbinde abgenommen und ihn losgebunden hatte. Die Mitteilung lautete, dass in der Kleinstadt Tallulah, dem Verwaltungssitz von Madison Parish im nordöstlichsten Winkel des Bundesstaates Louisiana, eine »geordnete und schweigsame, aber höchst entschlossene« Menschenmenge – unter Berufung auf den Brauch der Lynchjustiz – dafür gesorgt hatte, dass fünf dort ansässige Italiener den Tod durch Erhängen fanden.
Ihre Namen:
Giuseppe (Joe) Defatta, 34 Jahre
Francesco (Frank) Defatta, 30 Jahre
Pasquale (Charles) Defatta, 54 Jahre
Rosario Fiduccia, genannt Sy Defichi, 37 Jahre
Giovanni Cirami, genannt John Cerano
oder Cyrano, 23 Jahre.
Die drei Defattas waren Brüder. Und alle fünf stammten aus der sizilianischen Ortschaft Cefalù, handelten mit Obst und Gemüse, besaßen zwei Geschäfte in Tallulah und Karren für den Straßenverkauf.
Die Gründe für das kollektive Lynchen erwiesen sich als dürftig, auf jeden Fall als unglaublich.
Begonnen hatte alles mit einer Ziege. Sie gehörte einem der Brüder Defatta und fraß wie immer das Gras auf der Wiese von Doktor J. Ford Hodge, dem Amtsarzt. Der hatte sich mehrmals schon beschwert, aber nie Gehör gefunden, und die Ziege, als sie erneut auf seinem Grundstück aufgetaucht war, mit einem Schuss aus seiner Pistole getötet. Die Gruppe der Sizilianer hatte daraufhin Rache geschworen, einer von ihnen hatte auf Doktor Hodge geschossen und ihn ernstlich verletzt. So erklärte sich die Reaktion der Bürgerschaft, etwa zweihundert Personen, die eine Menschenjagd anzettelten. Zwei der Gejagten wurden in der Nähe des Ortes gestellt, wo es zum Anschlag auf den Doktor gekommen war, die anderen drei etwas weiter entfernt. Die fünf, wegen ihres gewaltbereiten und angriffslustigen Verhaltens bereits einschlägig in der Gemeinde bekannt, wurden des Komplotts zur Ermordung des Doktors und in diesem Zusammenhang der Errichtung eines Terrorsystems in Tallulah für schuldig befunden. Und dann gehängt. Aufgrund der herrschenden Dunkelheit hatte sich weder der Sheriff noch sonst jemand in der Lage gesehen, auch nur einen der an der Lynchaktion Beteiligten zu identifizieren. Eine unmittelbar einberufene Grand Jury *erklärte, dass keiner der Bürger von Tallulah wegen dieser Angelegenheit in irgendeiner Weise unter Anklage gestellt werden durfte.
Die Zeitungen sprachen dann noch von einem sechsten Italiener, auch er ein Sizilianer aus Cefalù, ein gewisser Giuseppe (Joe) Defina, ein Schwager der Defattas, der mit seinen beiden Söhnen im nahegelegenen Milliken’s Bend, am Westufer des Mississippi, eine Gemischtwarenhandlung betrieb. Die Menge hatte versucht, auch mit ihm abzurechnen, aber Joe Defina war es gelungen, über den Fluss zu fliehen.
Wie ich erfahren sollte, war die ganze Geschichte jedoch viel größer. Größer heißt schrecklicher, niederträchtiger, mysteriöser, aber auch abenteuerlicher und mit fast märchenhaften Zügen.
Für den Moment soll das genügen, denn ich will dem Leser erzählen, wie ich von der Sache erfahren habe und warum sie mich so gefesselt hat.
Der Anfang ist wirklich recht merkwürdig. Die Familie meiner Frau Cecile – väterlicherseits seit drei Generationen italoamerikanisch, mütterlicherseits franko-irisch – stammt aus Texarkana, einer Kleinstadt im Grenzgebiet zwischen Texas, Arkansas und Louisiana. Meine Schwägerin Suzanne, die älteste der drei Brunazzi-Schwestern – meine Frau ist die jüngste und Elizabeth die mittlere – ist mit Albert Paxton verheiratet, einem mittlerweile über neunzigjährigen Herrn, dem Ländereien in Tallulah, Louisiana, gehören. Auch heute noch betreiben Albert und Suzanne eine große Farm, wo über Jahrzehnte Baumwolle, Soja und Mais angebaut wurden, und züchten
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