In Cefalù, wo praktisch jeder einen Verwandten in Louisiana besaß, gab es im Übrigen keinerlei Bekundung von Trauer oder Protest. Keine Totenmesse, keine Forderung nach einem würdigen Begräbnis. Auf dem Domplatz kam es weder zu einem Menschenauflauf, der das Einschreiten der Carabinieri erfordert hätte, noch wurde eine Kundgebung einberufen. Für die Familien der Getöteten gab es von Seiten der Behörden keinerlei materielle Unterstützung. Von den Defattas und ihren Vettern – sie werden als »Siedler« bezeichnet – erfuhr man so gut wie nichts, und niemand schien sich für ihre Geschichte zu interessieren. Die Fotografien, die sie in Jacke, Weste und mit Taschenuhr zeigten, hatten sie nie nach Hause geschickt. Sie hatten keine Briefe geschrieben, nichts von sich hören lassen. Als hätten sie sich seit Jahren im Weltraum verloren, an Bord eines Raumschiffs.
Gewiss, damals unterlagen die italienischen Zeitungen der Zensur. Und gewiss waren die sizilianischen Journalisten schon früh daran gewöhnt, kein Wort zu veröffentlichen, das falsch gedeutet werden konnte, und sich nicht zu sehr in Privatangelegenheiten vorzuwagen. Beim Lesen jener mageren Berichterstattung bleibt jedoch ein ungutes Gefühl zurück, als gäbe es da ein verordnetes Schweigen, als wüssten sie mehr und sagten es nicht. Undeutlich hat man ein Bild vor Augen: schwarzgekleidete Frauen in ihren Häusern und Verwandte, die kommen, um ihnen Neuigkeiten aus Amerika zuzuflüstern. Doch schon stehen die nächsten zum Aufbruch bereit, die Schiffsfahrkarte in der Tasche. Ihnen wird versichert, jene Tat hätte sich nicht dort ereignet, wo sie hingingen, sondern ganz woanders, es bestünde daher keine Gefahr.
Unsere fünf erfuhren allerdings die Genugtuung, in einem Lied vorzukommen. Der Text ist von Antonio Corso, einem ehemaligen Unteroffizier der Guardia di Finanza, er ließ die Verse bei Artale in Turin drucken. Unter der Zeichnung eines großen Laubbaums, an dem die Körper der Cefalutani hängen, auf die sonderbare Leute in Jagdkleidung mit ihren Gewehren zielen, steht folgender Titel:
FÜNF ARME ITALIENER
GELYNCHT IN TALLULAH IN AMERIKA
Einige Verse:
O gioventù d’Italia
Abbruna la bandiera!
Chi di valor t’uguaglia
O gioventude fiera?
O martiri sepolti
Laggiù nella Luigiana,
purtroppo siete morti
ma chi la piaga sana?
O gioventù d’Italia
Abbruna la bandiera,
e della vil ciurmaglia
fanne vendetta nera.
E sotto il manto del tuo valor
Soccorri e vendica il nostro onor! *
Doch unsere fünf – besser sechs, um den überlebenden Joe Defina nicht zu vergessen! – wurden keine Helden. Winzige Ameisen der Geschichte kurz vor der Jahrhundertwende blieben sie nichts als exotische Geister, ferne Wahrzeichen, deren Schicksal wenige Herzen rührte. Dennoch hatten sie und ihre Ziegen sich im Zentrum einer speziellen Konstellation aus Geopolitik, Sklaverei und großem wirtschaftlichem Kalkül befunden. Ohne dass sie es ahnten, waren sie zu Versuchskaninchen der neuen, an den italienischen Universitäten ausgefeilten Rassentheorien geworden, die den furchtbarsten Gräueln des anbrechenden Jahrhunderts den Weg bahnten.
Die italienische Nation, so jung sie auch war, verstand sich bereits auf Überheblichkeit und Bürokratie. Wir fordern Entschädigungen! Strenge Abmahnung der amerikanischen Regierung! Respekt! Unsere Beamten machen sich an die Arbeit, weil dem König seine Bürger doch am Herzen liegen. Wer daher am 28. Juli 1899 die Gazzetta Ufficiale aufschlug, konnte eine Triumphmeldung lesen:
»Doktor Hodge ist nicht tot!«
Fast als wäre dies das Verdienst der italienischen Diplomatie.
*(Oh, Jugend von Italien, / leg Trauer an die Fahne! / Wer ist an Tapferkeit dir gleich, / oh, stolze Jugend? / Oh, Märtyrer, begraben / dort drüben in Louisiana, / zum Leidwesen seid ihr tot, / doch wer heilt die Wunde? / Oh, Jugend von Italien, / leg Trauer an die Fahne, / und an dem feigen Gesindel / nimm deine schwarze Rache. / Gehüllt in deine Tapferkeit / steh bei und räche unsere Ehre!)
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