Die Defattas waren bis nach Tallulah gekommen, weil es sich dabei um ein faules Versprechen handelte. Sie hatten festgestellt, dass ihre Forderung nach Land mit Flintenschüssen beantwortet wurde. Auch die befreiten Schwarzen in Amerika hatten nicht das ihnen versprochene Land bekommen. Sie hatten gar nichts bekommen.
In der Nacht des 20. Juli 1899 hingen die fünf Leichen am Galgen, doch die Arbeit der Lynchknechte war noch nicht beendet. Reiter sprengten durch Tallulah. Sie hatten die Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten, indem sie den Telegrafisten mit vorgehaltener Waffe in Schach hielten und die beiden Zufahrtsstraßen zur Stadt kontrollierten. Sie hatten die Wohn- und Ladenräume der Defattas nach Waffen oder irgendetwas anderem durchsucht, womit sich das Vorhaben der Sizilianer, ihr Komplott, beweisen ließe. Und nun versammelten sie sich, um das Edikt, so hatten sie es genannt, in die Tat umzusetzen.
Das Edikt war ganz simpel: Im Madison Parish darf kein einziger Dago überleben. Es gab allerdings noch zwei, Vater und Sohn, nur ein paar Meilen entfernt im kleinen Ortsteil Milliken’s Bend am linken Ufer des Mississippi. Für die Lyncher war es nichts Außergewöhnliches, auch auswärts zu operieren, das hatten sie schon zuvor gemacht. Eine Posse Comitatus *– eine improvisierte Miliz – sammelte sich auf dem Hauptplatz und machte sich bereit, neun Meilen nach Norden zu galoppieren, um so schnell wie möglich in Milliken’s Bend einzufallen.
Bei den Gesuchten handelte es sich um Giuseppe Joe Defina und seinen Sohn Salvatore, der noch im Jungenalter war. Joe Defina gehörte derselben »Rasse« an wie die Gehängten; mehr noch, er war der Schwager eines der Defattas, und in Tallulah kannten ihn alle. Auch er hielt sich seit sechs Jahren in dieser Gegend auf und betrieb einen Gemischtwarenladen, in dem sich ganz Milliken’s Bend versorgte. Er gehörte ebenso wie die anderen bestraft, das war klar, denn es konnte nicht sein, dass er von der Absicht des Schwagers, Doktor Hodge umzubringen, nichts gewusst haben sollte.
Doch in jener Nacht lief es für die Lyncher schlecht, dank zweier rechtschaffener Menschen, Mr. Ward und Dr. Gaines. Ersterer befand sich auf dem Rückweg von Milliken’s Bend, als er auf die Posse stieß, die sich gerade zum Aufbruch bereit machte. Sie informierten ihn, dass sie vorhatten, Joe Defina zu lynchen. Ward wendete sein Pferd und ritt so schnell er konnte zurück, um ihn zu warnen. Dasselbe tat Dr. Gaines, ein Kollege von Doktor Hodge, der diesem einen Hausbesuch abgestattet und festgestellt hatte, dass er sich keineswegs in Lebensgefahr befand. Die Verletzungen an Händen und Bauch, verursacht durch eine Ladung Schrot aus der Jagdflinte, waren alles in allem oberflächlich. Und so sprang auch Gaines auf sein Pferd.
Vor dem Geschäft von Joe Defina setzten sich die beiden für Verhandlungen zwischen dem Lynchkommando und dem Mann ein, der gehängt werden sollte. Anfangs hatte man Joe offenbar vierundzwanzig Stunden zugestanden, um das Parish zu verlassen, diese wurden aber plötzlich auf drei reduziert. Defina begreift, dass seine einzige Chance darin besteht, über den Fluss zu kommen. Einer seiner Arbeiter, ein Schwarzer namens Buck Collins, hilft ihm dabei: Er besorgt ihm für sechs Dollar ein Kanu. Joe und sein Sohn bringen nur wenige Dinge in Sicherheit, darunter das Kassenbuch – dort sind sämtliche Kredite des Ladens verzeichnet –, und beeilen sich, nach Mississippi zu kommen. Zuerst müssen sie sich durch die von Alligatoren wimmelnden Bayous schlagen, um die Posse abzuhängen; dann sind noch zwanzig Kilometer reißende Flussströmung zu überwinden, ehe sie am Ufer vor Vicksburg an Land gehen. Bis dahin vergehen viele Stunden. Die Sonne ist sengend, beide sind verbrannt, von Fieber geschüttelt, aber sie haben es geschafft.
Es war nicht das erste Mal, dass Joe Defina auf dem Wasser in Gefahr war. Als Jugendlicher, ein sizilianischer Schiffsjunge neben vielen anderen seinesgleichen, befand er sich inmitten von Maschinisten, sizilianischen Carbonari *und Anhängern Garibaldis auf dem Panzerkreuzer Re d’Italia , dem Stolz der italienischen Marine, als dieser von den Österreichern in der berühmten Seeschlacht von Lissa gerammt wurde.
Das geschah 1866, Sizilien war eben erst Teil des Königreichs Italien geworden, und seine besten Seeleute waren zum Kriegsdienst einberufen worden, um Venetien vom österreichischen Joch zu befreien und so das Heimatland und seine östlichen Grenzen zu stärken. (Was im Geschichtsunterricht als »Dritter Italienischer Unabhängigkeitskrieg« bezeichnet wird.)
Das Ganze war nicht gut gelaufen, im Gegenteil, es war ein Desaster. Die österreichische Marine, die bis auf den letzten Mann aus erfahrenen venezianischen Seeleuten bestand, gewohnt, sich die Befehle in ihrem Dialekt zu geben (genau diejenigen, die es laut Savoyen kaum erwarten konnten, Italiener zu werden), zerschlug eine aufgeblasene, korrupte, absurde und zehnmal größere italienische Flotte. Deren Admiräle waren allesamt piemontesische Adlige, und ihre Offiziere hatten noch nie eine Schlacht gewonnen. Die einzige Kraft, die der Situation gerecht wurde, war die Horde, die man gewaltsam in den Häfen Süditaliens zusammengetrieben hatte. So also fand sich der junge Defina zusammen mit Hunderten anderen im Meer wieder, ein Schiffbrüchiger vor Ancona, an ein Wrackteil geklammert. Er wurde nach Hause geschickt. Die venezianischen Seeleute, die in Lissa unter der Flagge von Kaiser Franz Joseph I. gekämpft hatten, erhielten jeder ein Stück Land in ihrem Reich. Die geschlagenen und vor Lissa versenkten Sizilianer gingen leer aus. Und so kehrte der zwanzigjährige Giuseppe Defina als Kriegsveteran nach Cefalù, seinen Geburtsort, zurück.
Natale (Nat) Piazza. Gebürtiger Mailänder. Italienischer Konsul in Vicksburg. Als Besitzer eines stadtbekannten Hotels zählte er zu den »Prominenten« der Stadt. Verängstigt und widerwillig stellte er in Tallulah Nachforschungen zu dem Lynchmord an und zeigte sich geneigt, ihn zu rechtfertigen.
Von ihm existieren keine Fotografien. Wir wissen nur, dass er 1889 mit etwa fünfundvierzig Jahren nach Amerika ausgewandert ist. Wir wissen aber auch, dass er sich zur Zeit des großen Pogroms gegen die Italiener in New Orleans befand. Wie alle anderen musste er sich monatelang versteckt halten, dann machte er sich auf, um sein Glück im Norden zu suchen. Und etwas Glück hat er tatsächlich gehabt. Er besaß drei Pferde, ein Maultier, ein Gewehr, drei Hilfsarbeiter und ein Stückchen Land, das er bestellen konnte. Sein General Store in Milliken’s Bend war eines von zwölf Geschäften an der Hauptstraße des Dorfes.
Als Giuseppe Joe Defina am 22. Juli 1899 mit hohem Fieber und von der Sonne am ganzen Körper verbrannt vor Nat Piazza, Träger des Ordens der Krone von Italien und Honorarkonsul von Vicksburg, erschien, war er vieles zugleich: ein italienischer Staatsbürger, ein Kriegsveteran samt Tapferkeitsmedaille, der erste Mann, der dem Lynchen entgangen war, ein Händler, der alles verloren hatte.
Ein Mann auf der Flucht von Land zu Land, der jedes Mal Rettung im Wasser fand. Oder vielleicht auch nur ein Dago , ein Krimineller, ein Abschaum.
*Die Posse Comitatus (lat.: »Kraft für das Land«) ist eine alte englische Institution, die aus tauglichen Männern über fünfzehn Jahren besteht, die vom Sheriff mobilisiert werden, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. [Anm. d. Übers.]
*Die Carbonari, wichtigster politischer Geheimbund der italienischen Staaten im 19. Jahrhundert, kämpften für die Einheit Italiens. [Anm. d. Übers.]
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