Die Naturgewalten – Überschwemmungen und Krankheiten – suchten Madison Parish immer wieder aufs Schwerste heim. 1896 trat der Mississippi auf verheerende Weise über die Ufer; kleinere Überschwemmungen waren beinahe an der Tagesordnung. Im Durchschnitt alle sieben Sommer wuchs sich das heimische Gelbfieber zur Epidemie aus. Vor allem aber machte der Bürgerkrieg dieser Ecke von Louisiana schwer zu schaffen.
Die Landschaft ist flach und reichlich eintönig. Ist man jedoch zu Fuß auf den Wegen rund um Tallulah unterwegs, stößt man immer wieder auf einen halben Quadratmeter große Metallschilder, die an einem Eisenpfahl befestigt im Boden stecken, oft mitten im hohen Gras. Dutzende um Dutzende, und alle verweisen auf kleinere, man könnte auch sagen völlig belanglose Episoden aus dem Bürgerkrieg. »Hier versuchte das Unionsheer eine Pontonbrücke zu errichten«, »Hier wurde das Tennessee-Bataillon durch heftiges Gewehrfeuer zum vorübergehenden Rückzug gezwungen«, »Hier bestand ein Munitionslager, das von den Angreifern aus Vicksburg zerstört wurde«. Diese ganze Erinnerungskultur kulminiert auf der anderen Seite des Flusses im weltweit vielleicht größten Militärmuseum, dem Vicksburg National Military Park, der sich über Dutzende von Hektar erstreckt. Eingebettet in die Hügel, wurde das Gelände der sieben lange Monate währenden Belagerung der Stadt, die am 4. Juli 1863 mit einer für die Konföderierten fatalen Niederlage endete, zu einer nationalen – und parteienübergreifenden – Gedenkstätte des Krieges. Jeder amerikanische Bundesstaat erinnert an seine Mitwirkung am Bürgerkrieg in Form riesiger Bauten aus Marmor und Granit, eine Aneinanderreihung von Skulpturengruppen mit sterbenden Infanteristen, geschwenkten Fahnen, Granatwerfern und Kanonen, scheuenden oder stürzenden Pferden.
Mit dem Verlust von Vicksburg verloren die Sklavenhalterstaaten die Kontrolle über den Fluss und die Möglichkeit der Bevorratung: Die Konföderation wurde gespalten. Den Sieg erzielten die beiden großen Strategen der Unionstruppen, die Generäle Ulysses Grant und William Tecumseh Sherman, die durch den Einsatz von U-Booten, Panzerschiffen, schwimmenden Festungen – den sogenannten Pook-Schildkröten –, durch Angriffskommandos und Dynamit gewaltige Kräfte entfalteten. In den Südstaaten gelten die beiden noch heute als Psychopathen, als gewalttätige und unmenschliche Yankees, die Militärgeschichte dagegen feiert sie als geniale Väter der Kunst moderner Kriegsführung.
Wirklich ein sonderbarer Ort, an den es fünf Sizilianer verschlagen hatte, um sich umbringen zu lassen. Und doch wird sie das viele Land, Schmelztiegel von Arm und Reich, an ihre Insel und deren Geschichte erinnert haben. Und nur durch einen historischen Zufall stießen sie da drüben nicht auf den General, der das Leben ihrer Väter verändert hatte.
Giuseppe Garibaldi hätte nämlich die Stelle von Grant oder Sherman einnehmen, die Truppen von Präsident Lincoln bei ihrem Kampf in den Sümpfen anführen und Vicksburg belagern sollen. Blond und hoch zu Pferde, den Poncho um die Schultern, hätte er der Befreier der in Ketten liegenden Sklaven sein sollen. Lincoln hatte Garibaldi, der 1860, nach dem aufsehenerregenden Krieg zur Befreiung Siziliens, als populärste europäische Persönlichkeit galt, ernsthaft dafür in Betracht gezogen. Garibaldi sorgte für Schlagzeilen in den amerikanischen Zeitungen (»Garibaldi kommt!«, »Garibaldi wird die Armee befehligen«, »Garibaldis Einsatz löst sich in Luft auf«), als wäre er ein berühmter Fußballstar. Lincoln schickte bereits 1861 eigens einen Gesandten, den Diplomaten Henry Shelton Sanford, allein und inkognito auf die sardische Insel Caprera, um den General für sich zu gewinnen. Garibaldi, zu jener Zeit siebenundfünfzig Jahre alt und mit dem Nimbus des Befreiers der Unterdrückten, geriet natürlich in Versuchung, aber mit Shelton Sanford sprach er Klartext.
»Sagen Sie es mir, lieber Freund. Was genau ist das Ziel dieses Krieges? Handelt es sich um die Eroberung des Südens oder um die Befreiung der Sklaven? Offen gestanden, mich interessiert nur der zweite Fall. Überhaupt könnte man von dort aus gleich weitermachen und auch die Schwarzen in der Karibik und in Brasilien befreien …«
Shelton Sanford blieb einigermaßen vage, und Garibaldi war nicht überzeugt. Auch war ihm nicht klar, welchen Status er haben würde. Besäße er die vollen Machtbefugnisse, oder müsste er sie teilen? Und mit wem?
Nach zwei Tagen eingehender Gespräche trennten sich Shelton Sanford und Garibaldi, ohne dass Letzterer den Auftrag angenommen hatte. Wie schade!
Nur wenige Schritte von Tallulah entfernt liegen die Orte, die uns noch immer unser Blut in Wallung bringen. Wer weiß, ob Garibaldi nicht das Gleiche getan hätte wie General Grant. Um Vicksburg von Westen aus anzugreifen, musste man die Kontrolle über den Fluss gewinnen. Und eben hier macht der Fluss eine Biegung, und jeder Angreifer wird zur leichten Beute der auf den Klippen platzierten Kanonen. Grant beschloss, die Flussschleife durch das Ausheben eines Kanals zu umgehen. Zwanzigtausend Soldaten und fünftausend befreite, aus dem Stegreif angeheuerte Sklaven mussten ein Jahr lang inmitten der Sümpfe und Alligatoren eine Arbeit leisten, die schlimmer war als alles, was sie je zuvor gemacht hatten. Diese schlecht verpflegte, von Malaria und Kanonenschlägen gebeutelte Truppe opferte das Leben von mehr als zehntausend Männern, um einen Durchbruch zu schaffen. Was ihr am Ende misslang: Vicksburg wurde dann von Süden eingenommen.
Die Gegend und die Sümpfe werden heutzutage am Wochenende von organisierten Expeditionen eines »Tourismus auf den Spuren der Geschichte« heimgesucht, bewaffnet mit Metalldetektoren und auf der Suche nach alten Projektilen, Waffen, Münzen oder wer weiß welch verborgenem Schatz.
In Madison Parish hinterließ der Krieg vielfache Zerstörung, Elend und eine unbezwingbare Feindseligkeit. Zum ersten Mal wurden hier befreite Sklaven von Unionisten in eine Uniform gesteckt und mit Gewehren ausgerüstet. Glaubt man den Konföderierten, dann besudelten sie sich durch Vergewaltigungen und Plünderungen des Besitzes ihrer vormaligen Herren. Gerieten sie in Gefangenschaft, wurden sie wie treulose Hunde erschossen. Darüber hinaus brannten die Konföderierten die großen Plantagen lieber nieder, anstatt sie dem siegreichen Feind zu überlassen.
Dreißig Jahre nach jenen Ereignissen konnten sich die Großgrundbesitzer noch immer nicht mit der Zerschlagung ihres perfekten Lebenssystems, der Ordnung ihrer Ländereien abfinden, aufrechterhalten von gehorsamen afrikanischen Sklaven, von einer Religion, die die Überlegenheit der weißen Rasse – die Bibel immer griffbereit – untermauert hatte, und von einer Politik, die niemals auch nur in Erwägung gezogen hatte, die Schwarzen als Bürger zu behandeln. In Erinnerung an diese perfekte Welt erschienen in Tallulah die Memoiren von Kate Stone Holmes, Tochter der größten Familie des Ortes, gebildet, sensibel, patriotisch, fast wie eine Scarlett O’Hara aus Vom Winde verweht . In ihrem Tagebuch beschrieb sie den Krieg aus dem Blickwinkel der Plantage Brokenburn – tausendzweihundert Hektar Land, hundertfünfzig Sklaven, erworben auf dem Markt von New Orleans. Sie berichtete vom Mut ihrer Brüder, allesamt Soldaten, und von der Galanterie der Alten Welt, die sich in Tallulah bei Kostümturnieren in Anlehnung an die Romane von Sir Walter Scott vergnügte, die ihre Tapeten in der Schweiz und ihre Lüster in Murano kaufte. Sie erwähnte die Pläne für eine Grand Tour durch Europa, noch bevor der Krieg ausbrechen würde. Und beschrieb dann die Flucht nach Texas, den Verlust sämtlicher Besitztümer, schließlich die Rückkehr und die Wut angesichts der Usurpation der ureigenen Welt.
In diesen Winkel der Welt also hatte es die Defattas aus Cefalù verschlagen. Sie waren einem gesellschaftlichen System entflohen, das den Anschein machte, als wollte es sich verändern, und das sich doch in keiner Weise verändert hat. Während derselben Jahre, in denen die Truppen der Nordstaaten den größten Krieg gegen die Wirtschaft der Großgrundbesitzer und die Sklaverei lostraten, den diese Welt je gesehen hat, ging im alten Mittelmeerraum, an der sizilianischen Küste, ein sonderbarer blonder General an Land, um die von den Bourbonen und der Kirche unterdrückten Sklaven zu befreien. Er versprach ihnen, dass sie nie mehr niederknien müssten, um die Hände der Herren zu küssen, vielmehr würde deren Land an sie als seine neuen Besitzer übergehen.
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