Hanke beschränkt sich aber nicht auf religiöses Schrifttum. Vielmehr veröffentlicht er eine Naturgeschichte der Vögel des zu jener Zeit sehr populären Zürcher Zoologen Heinrich Rudolf Schinz, daneben Henry Webers Vollständiges Ortslexikon der Schweiz oder auch 1867 das Adressbuch der Stadt Zürich. In diesem verlegerischen Umfeld erscheint nun Jollers Schrift, zurückhaltend im Umfang und unauffällig in der Gestaltung. Sie wird nur in einer einzigen Auflage gedruckt.
Den Titel seines Werkes muss Joller nicht weit herholen. Unüberhörbar lehnt er sich an ein Werk an, das zwei Jahre zuvor in Leipzig veröffentlicht worden ist, verfasst von einem Professor der Universität Bern: an Maximilian Pertys 1861 erschienenen Mystische[n] Erscheinungen der menschlichen Natur. In diesem umfangreichen Buch von 770 Seiten kommen sämtliche Formen der Erscheinungen bereits vor, die Joller nun in seiner Darstellung schildert und mit seiner Familie im eigenen Haus in Stans erlebt hat. Perty ist auch der Verfasser der kurzen Vorrede zu Jollers Schrift. Im Brief an Hurter preist Joller diese Vorrede als «von einem in diesen Sachen erfahrenen Gelehrten und Professoren an einer der schweiz. Hochschulen» stammend, gibt aber den Namen des Autors nicht preis. Hingegen fügt Joller der eigentlichen Vorrede eine Anmerkung bei, in der er den Verfasser der Vorrede mit ähnlichen Worten verdankt. Zudem bezeichnet er ihn dort als «theilnehmenden Freund».
Der Umschlag des kleinen Büchleins gibt keine Auskunft darüber, dass der Autor inzwischen selber nach Zürich umgesiedelt ist und mit seiner Familie in einer kleinen, stickigen Wohnung in einer Mietskaserne in Aussersihl lebt. Vergeblich erhofft sich Joller vom Verkauf dieses Büchleins ein anständiges Einkommen. Denn die Ereignisse, über die er darin berichtet, haben ihn und seine Familie zum Verlassen des Hauses und zur Flucht aus Stans gezwungen. Als Advokat oder Anwalt darf Joller in Zürich nicht arbeiten, sein Einkommen und damit die Ernährung der Familie stehen auf unsicherem Grund.
BERICHTZu einer gelungenen Rede gehört eine geschickte Dramaturgie. Die Zuhörer wollen gepackt, unterhalten, gekitzelt und bis zum Schluss nicht mehr losgelassen werden. Melchior Joller ist ein glänzender Redner, ausgestattet mit einer wohlklingenden Stimme. Er beherrscht dieses Metier und beweist dies in seiner Schrift. Zum Anfang bezieht er kompromisslos die Position des aufgeklärten, vollständig auf die strenge Naturwissenschaftlichkeit vertrauenden Mannes. «Abgesagter Feind solcher Mystik» und jedem «Ammenmährchen» abhold, habe er nichts anderes im Sinn, als «der Wahrheit unverfälschtes, öffentliches Zeugniß zu geben». Joller ist sich bewusst, dass seine Geschichte nur vor diesem Hintergrund Glaubwürdigkeit entfalten kann. Sein tagebuchartiger Stil, der wegen der häufigen Wiederholungen den heutigen Leser bisweilen Langeweile spüren lässt, dient in erster Linie diesem Ziel: den Erzähler als seriösen, detailgenauen und deshalb ernst zu nehmenden Berichterstatter eigener Erlebnisse erscheinen zu lassen. Nicht zuletzt diese Eigenschaften werden dem Text zu einer grossen Karriere in der parapsychologischen Literatur verhelfen. Die Wissenschaftlerin und Okkultismusforscherin Fanny Moser bezeichnet ihn als einen «Fall erster Klasse», der «bis auf den heutigen Tag immer wieder als einer der besten der Weltliteratur erwähnt» werde. Und für den Parapsychologen Theo Locher gehört er «seit den ergänzenden Forschungen von Dr. Fanny Moser zu den bestdokumentierten der Weltliteratur».
Ob gewollt oder ungewollt, Joller gibt durch seinen Text eine bestimmte Richtung der Interpretation vor. Er beginnt sanft und langsam mit der Bauart des Hauses, damit sozusagen die Bühne und Kulisse für die folgende Handlung umreissend. Es folgt ein Rückblick auf die Geschichte seiner Familie, angefangen bei seiner Grossmutter Veronika Gut, der Erbauerin des Hauses, bis zu seinen Kindern, damit das Personal bezeichnend. Joller skizziert eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung, wie bei einem klassischen Drama. Die Ereignisse spielen sich demnach nicht zufällig in diesem Haus, nicht zufällig unter diesen Menschen ab. Das Gebäude, seine Geschichte und seine Bewohnerschaft sind notwendige Voraussetzungen dafür.
Im Tonfall des präzisen Rapporteurs, des distanzierten Beobachters streift Joller gleichsam im Vorübergehen seine eigene politische Karriere. Wie beiläufig erwähnt er seine Wahl in den Nationalrat, die Gründung des liberalen Nidwaldner Wochenblatts, den damals sehr viel Aufsehen erregenden Mordprozess um die Geschwister Bali und schliesslich das «mächtige nationale Verbrüderungsfest der Schützen», den Höhe- und Endpunkt seines politischen Engagements. Das Kapitel über den Ort des Geschehens lässt er in einer kurzen Bemerkung über seine sieben gesunden Kinder ausklingen. Seine Frau, die Mutter dieser Kinder, erwähnt er dabei nicht.
Nach diesen Ausführungen über die Umstände von Ort und Zeit beginnt die eigentliche Erzählung, die Darstellung selbsterlebter mystischer Erscheinungen. Es folgt eine breite Palette von Vorkommnissen, von feinem Klöpfeln und heftigem Poltern über das mehrmalige Aufreissen und Zuschlagen von Türen und Fenstern unter den Augen der Familienmitglieder, über das blitzschnelle Herumwerfen von Möbeln, über die Erscheinung von durchsichtigen Gestalten, von schwebenden Armknochen, von verdoppelten Menschen, über Berührungen von unsichtbaren kalten Händen, bis hin zu einem Pferdegeschirr im Ofenrohr, das fast nicht mehr daraus zu entfernen war. Die Erzählung berührt zahlreiche Erscheinungen, von denen viele auf die alleinige Wahrnehmung durch eines der Familienmitglieder zurückgehen. Andere hingegen wurden von mehreren Leuten wahrgenommen – denn «dass es klopfte, bezweifelt Niemand».
In chronologischer Reihenfolge breitet Joller die Geschehnisse aus. Sie sind einmal von den Kindern oder von seiner Frau erlebt, ein andermal von ihm selber; bisweilen erwähnt er Zeugen, dann wieder gibt es keine. An einzelne verstreute Ereignisse seit dem Herbst 1860 will sich die Familie aber erst nach dem Beginn der heftigen Erscheinungen erinnern. Diese brechen am 15. August 1862 los, dem Tag von Mariä Himmelfahrt, und dauern bis zum Auszug der Familie aus dem Haus am 23. Oktober des gleichen Jahres.
Was geht Joller durch den Kopf, als er zwischen Oktober 1862 und dem Sommer 1863 diese Erlebnisse zu Papier bringt? Wen stellt er sich als seinen Leser, seine Leserin vor? Denkt er an Maximilian Perty, den Professor für Zoologie und Anthropologie an der Universität Bern? Oder denkt er an seinen ehemaligen Mitstreiter Karl Deschwanden, den liberalen Anwalt und Politiker in Stans? Hat er den frömmlerischen Pfarrer Remigius Niederberger von Stans vor Augen? Oder vielleicht die Verwandtschaft seiner Frau im Badischen, in Freiburg im Breisgau und in Konstanz? Der nüchterne Tonfall seines Berichts legt nahe, dass er sich oft an die Wissenschaft und deren Vertreter richtet. Doch dann schreibt er Dinge nieder, die für die allfällige Aufklärung der Geschehnisse von keinerlei Bedeutung sind. Er sei «Mitglied des Centralcomites vom eidgenössischen Schützenvereine» gewesen und habe deshalb bei der Begrüssung der eidgenössischen Offiziersfahne dabei sein müssen. Öfters erwähnt er, dass er für Geschäfte nach Luzern oder Zürich habe reisen müssen. Dies hält er nicht für die Wissenschaft, sondern für seine ehemaligen Weggefährten fest. Ihnen ist er fremd geworden, weil sie auf seine Erlebnisse kopfschüttelnd bis ablehnend reagiert haben. Oder weil er sich vielleicht schon früher von ihnen entfernt hat.
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