Seinen Vater Jakob beschrieb Joller in den wärmsten Worten als einen «Mann von hellem Geiste und tiefem Gemüthe. Wer ihn kennen lernte, musste ihn schätzen und lieben.» Fröhlich und friedliebend, habe er «zu den wenigen Liberalen dieses Ländchens» gezählt und sei «trotz seiner verpönten politischen Gesinnung mit den wichtigsten Verwaltungen der Gemeinde Stans betraut» worden. Jakob Joller hatte die Stelle des Kirchmeiers inne, war also Finanzverwalter der Kirchgemeinde. Über seine Mutter Klara Waser verlor Joller kein Wort. Die Bilder, die er in seiner Schrift entwarf, und seine Wortwahl zeugen von einer stark verengten Sicht: Was bei der Beschreibung einer Familie zählt, ist einzig die Erblinie vom Vater – oder im Ausnahmefall von der verwitweten und politisch aktiven Mutter – zum Sohn. Zudem ist es nicht statthaft, über Familienangehörige, etwa seine Grossmutter, etwas Negatives zu erzählen. Joller bewegt sich in den Denkmustern und Verhaltensregeln der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit.
SELTSAMER BESUCHAm 15. August 1862, dem Festtag Mariä Himmelfahrt, geschieht etwas sehr Merkwürdiges. Joller berichtet von den Kindern: «Wie sie da unter einem Baume sich zusammengefunden, humpelte eine steinalte Jungfer auf sie zu, sich erkundigend, ob das das Haus sei, wo Veronika Gut nach dem Ueberfalle gewohnt habe. Auf die Bejahung, und indem sie ihr Obst anboten, erzählte sie ihnen, dass sie die ‹Vronegg› [Veronika], ihre Urgroßmutter gar wohl gekannt hätte.» Und dann gibt Joller eine Geschichte wider, welche die alte Frau seinen Kindern erzählt habe: «Sie habe auch den vier Schwestern ihres Großvaters, die im Aawasser ertrunken, in der Kapelle St. Joder auf Altzellen ‹geklenkt› (die Sterbeglocke geläutet). Es sei ihr noch, wie wenn’s gestern gewesen wäre, sie und ihr Bruder, dort Sigrist, hätten schon am Abend vorher ein Unglück vermuthet. Da sei’s mit Nachtwerden wie ein weißgekleideter Mann mit einem Lichte an die Kapelle herangekommen, und sie hätten geglaubt, es wolle Jemand ‹klenken› lassen. Wie ihr Bruder aber hinübergekommen sei, habe er Niemand weder nah noch fern gesehen, und sei darauf schwer krank geworden. Gegen den Morgen habe man ihnen die Trauerbotschaft gebracht, worauf sie die Todtenglocke lange geläutet habe.» Damit endet die Erzählung der alten Frau. «Mit Dank und allerlei frommen Wünschen trat sie dann wieder ihren Heimweg an.»
Joller schafft mit dieser Geschichte eine weitere direkte Verbindung zwischen den Spukereignissen in der Spichermatt und seiner Grossmutter Veronika Gut. Der Tod von deren vier Töchtern ging auf den Umstand zurück, dass ein anonymer Rufer im September 1801 die Familie der Veronika Gut mitten in der Nacht zur Flucht aus der Spichermatt bewog. Beim Überqueren eines reissenden Baches brach der Steg ein, und Veronika Gut musste zusehen, wie ihre vier Töchter in den Tod gerissen wurden. Einziger Überlebender von Veronika Guts Kindern war Jakob. In die Geschichte dieses schrecklichen Unglücks bettet Joller eine zweite Gespenstergeschichte ein: die Geschichte vom weiss gekleideten Mann mit dem Licht, der plötzlich verschwand, was den Sigrist schwer krank machte. Die eigentümliche Begegnung mit der «steinalten Jungfer» soll sich am Nachmittag des 15. Augusts 1862 zugetragen haben. Die Magd Christine Christen, die zwei Wochen später zu den Ereignissen in Jollers Haus intensiv befragt wurde, wusste viel zu erzählen. Aber diese keineswegs alltäglich klingende Geschichte von dem seltsamen Besuch – davon erzählte sie im Verhör kein Wort.
Warum flicht Joller diese Geschichte in seine Darstellung ein? Allein durch ihre Erwähnung stellt er einen Zusammenhang zwischen der Spukgeschichte und dem Auftritt der Alten mitsamt deren Erzählung her. Er suggeriert damit – bewusst oder unbewusst –, dass er die Ereignisse ab diesem Tag in seinem Haus als eine Vorankündigung auffasst, dass er darin den Hinweis einer übersinnlichen Macht auf bevorstehende einschneidende Eingriffe in das Leben seiner Familie erblickt. Für den Auftritt der alten Frau gibt es keine andere Quelle als Jollers eigene Schrift.
LATEINSCHULE IN STANSSeine Schulzeit war Melchior Joller bloss einen Nebensatz wert. Bis 1835 ging er bei den Kapuzinern in Stans in die Lateinschule. Die Schule lag am oberen Dorfrand von Stans, integriert ins Kapuzinerkloster. Sie hatte zwar keinen besonderen Ruf in diesen Jahren, aber sie lag so nah, dass der Knabe Melchior sie täglich zu Fuss erreichen konnte. Sein Weg führte entweder mitten über den Dorfplatz von Stans, vorbei an der imposanten, leicht erhöht liegenden Pfarrkirche. Oder er wählte den Pfad am oberen Dorfrand, entlang der Mauer des Frauenklosters.
Anders als in späteren Jahren wurden in der Schule der Stanser Kapuziner zu dieser Zeit keine Priester ausgebildet. Aber wie alle weiterführenden Schulen in den katholischen Gegenden der Schweiz war auch diese in erster Linie der Vorbereitung auf die Priesterlaufbahn verpflichtet. Wollte Joller Priester werden? Hatte sein liberal gesinnter Vater diese Berufung für seinen Sohn vorgesehen? Das zur Schweiz gehörende Gebiet des Bistums Konstanz war bereits 1814 von Konstanz gelöst worden. Ein Jahr vor Jollers Eintritt in die Stanser Lateinschule wurde 1828 der Kanton Luzern dem neu gegründeten Bistum Basel zugeschlagen, während die restliche Innerschweiz und also auch Nidwalden zum Bistum Chur gelangte. Der Einfluss des aufgeklärten Konstanzer Generalvikars Ignaz von Wessenberg und seines Luzerner Vertreters, des Stadtpfarrers Thaddäus Müller, wurde mit diesen Massnahmen massiv beschnitten. Dem Papst und seinem Botschafter in der Schweiz, dem päpstlichen Nuntius in Luzern, gelang damit ein wichtiger Schritt zur Eindämmung liberaler Ideen innerhalb der katholischen Kirche der Schweiz. Die liberalen Politiker in den katholischen Gegenden der Schweiz waren zwar trotz häufiger gegenteiliger Anschuldigungen sehr wohl katholisch – die liberale Luzerner Verfassung von 1831 machte sogar ausdrücklich das Stimm- und Wahlrecht von der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche abhängig. Aber in dieser antiliberalen Stimmung der offiziellen Kirche dachte Jakob Joller kaum daran, seinen Sohn Melchior auf die Priesterlaufbahn vorzubereiten. Zumal Melchior als einziger Sohn dereinst den Hof Spichermatt erben sollte.
GYMNASIUM IN LUZERNFür drei Jahre, von 1835 bis 1838, besuchte Melchior Joller die vierte bis sechste Klasse des Gymnasiums in Luzern. Im ersten Jahr hatte er Kost und Logis beim Schuhmacher Isaak in der Werchlaube, mitten in der Altstadt. Ein paar Schritte die Gasse hinunter und über die Reussbrücke – in wenigen Minuten war der 17-jährige Joller an der Höheren Lehranstalt, nahe von Ritterschem Palast, Jesuiten- und Franziskanerkirche. Die nächsten beiden Jahre wohnte er bei Businger im «Schlösslihof». Damit ist eher der Schlosshof im Obergrund gemeint als das Schlössli in der Halde, das mehr als eine halbe Stunde vom Stadtzentrum entfernt lag. Sein rund zehn Minuten dauernder Schulweg führte ihn dem offenen und als stinkende Kloake dienenden Krienbach entlang zum Obertor, wo er den Hirschengraben überqueren und in die noch fast vollständig ummauerte Stadt gelangen konnte.
Zu diesem Zeitpunkt wurde in der Stadt bereits heftig über den Abbruch des Obertors diskutiert. Es lag ein Vorschlag auf dem Tisch, an dessen Stelle die kantonale Zentralschule zu bauen. Doch die heftigen Parteikämpfe zwischen den regierenden Liberalen um den herausragenden Kasimir Pfyffer und der konservativen Opposition verhinderten das Projekt. Die bestehende Höhere Lehranstalt genoss nicht den besten Ruf. Zum einen war sie altertümlich organisiert. Auf das sechsjährige Gymnasium mit Altgriechisch und Latein im Zentrum folgte das Lyzeum. Hier musste der Student wählen zwischen der philosophischen Richtung, die ihn auf den Besuch einer Universität vorbereitete, oder der dreijährigen theologischen Richtung, die ihm zum Priesterberuf führte. Erst 1829 wurde zudem eine polytechnische Abteilung eingeführt, doch bereits 1835 wieder geschlossen, weil sie sich im unklaren Bereich zwischen einer handwerklichen Ausbildung und einem naturwissenschaftlichen Studium auf Hochschulstufe bewegte und damit an den Bedürfnissen der Zeit vorbeizielte.
Читать дальше