Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Was bei Schiller unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege dramatisch als ein Kampf der Eidgenossen gegen die Knechtschaft der Habsburger beschrieben wurde, war jedoch eine für die Verhältnisse der Zeit friedliche und langsame Herausbildung von Institutionen. Vom 13. bis ins 19. Jahrhundert entwickelten sich in den einzelnen eidgenössischen Orten und Städten eine Vielzahl von Selbstverwaltungsformen. Insbesondere in den Urkantonen verwalteten Korporationen Wälder, Weiden, Gewässer oder Wege gemeinsam, daher auch der Begriff «Allmend» für öffentlichen Boden, der allen gemeinsam gehört. Aus diesen Korporationen entstanden politisch autonome Gemeinden, deren alteingesessene Familien die Nutzungsrechte besassen. Zuzüger, Hintersassen genannt, hatten oft keine Bürgerrechte. Erst nach der Gründung des Bundestaates 1848 erhielten alle Einwohner der Schweiz nach mehreren Anläufen das Bürgerrecht einer Gemeinde. In vielen Schweizer Gemeinden bestehen jedoch bis heute Bürgerkorporationen mit ansehnlichem Wald- oder Feldbesitz, der an sogenannten Banntagen abgeschritten wird. Manche Bürgergemeinden betreiben soziale Einrichtungen wie etwa Pflege- und Altersheime. Gleichzeitig ist in der Schweiz aufgrund der korporativen Tradition die politische Gemeinde als kleinste Selbstverwaltungseinheit nicht nur für Land und Infrastruktur, sondern auch für ihre Einwohnerinnen und Einwohner und damit für das Sozialwesen zuständig.
Die Rütliwiese. Fotografie von Werner Friedli, 1948.
Diese Selbstverwaltung auf kleinstmöglicher Ebene entdeckten liberale Denker erst spät, im 20. Jahrhundert, als einen weiteren zentralen Aspekt der «guten» Schweizer Institutionen. Ökonomen im 20. Jahrhundert sprachen von Föderalismus, Dezentralismus oder auch von «small is beautiful». Anstatt gegen die Knechtschaft durch eine Obrigkeit zu kämpfen, wurden in den Schweizer Kantonen Institutionen gegründet, welche die Entscheidungsmacht an der tiefstmöglichen Stelle hielten. Das Beispiel der Gemeindeautonomie hob SHIV-Direktor Gerhard Winterberger in der Nachkriegszeit gerne als Paradebeispiel des Schweizer Staatswesens hervor: Solange eine kleine Gemeinde selbst über ihr Schicksal entschied, konnte keine Obrigkeit Macht über die Gemeinde missbrauchen und umgekehrt konnten selbstverwaltete Gemeinden für ihre Missstände keine Obrigkeit verantwortlich machen. Damit entstand eine spontane Ordnung, in der die jeweils kleinstmögliche Institution oder sogar eine Einzelperson Verantwortung übernehmen musste, was nicht nur zu Frieden, sondern auch zu Wohlstand führte.
In den ersten Jahrhunderten der Eidgenossenschaft bildeten die einzelnen Orte, das heisst Uri, Schwyz und Unterwalden sowie danach Luzern, Zürich, Glarus, Zug und Bern, Bündnisse. Bis 1513 kamen Freiburg, Solothurn, Basel, Schaffhausen und Appenzell dazu. Gesandte dieser souveränen Orte trafen sich bei Bedarf, um Geschäfte zu erledigen. Ab dem 17. Jahrhundert wurde die Versammlung der Gesandten der eidgenössischen Orte «Tag» genannt, woraus sich der Begriff «Tagsatzung» ableitete. Bis zur Gründung des Bundesstaates 1848 war die Schweiz – abgesehen vom Unterbruch durch Helvetik und Mediation zwischen 1798 und 1813 – ein Staatenbund und die eidgenössische Tagsatzung die Versammlung der Staaten, damals Orte genannt. Einer der eidgenössischen Orte hielt jeweils den Vorsitz und lud zur Tagsatzung ein («setzte den Tag»), dieser Ort wurde der «Vorort» genannt. Die Tagsatzung beschäftigte sich unter anderem mit der Absicherung der Handelsrechte der eidgenössischen Orte. Dies vor allem gegenüber Frankreich, der wirtschaftlichen Grossmacht Europas im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Die Willkür Frankreichs konnte die spätmittelalterlichen Orte auf dem Gebiet der heutigen Schweiz teuer zu stehen kommen. Genf, das sich im 15. Jahrhundert Ludwig XI. nicht unterordnen wollte, musste erleben, dass der König den französischen Kaufleuten den Besuch der internationalen Messe in Genf verbot und stattdessen Lyon offiziell als Messestadt einsetzte. Damit verlor unter anderem die freiburgische Tuchmanufaktur ihren Umschlagplatz an der Genfer Messe, was das Ende dieses Industriezweigs in der Saanestadt bedeutete – dies auch, weil England hohe Zölle auf die Wollausfuhr einführte und die englische Wolle zu teuer für den Import nach Freiburg wurde. Der europaweite Freihandel war somit für gewisse Schweizer Regionen bereits im Spätmittelalter bedeutsam. Freihandelsabkommen wurden dann auch zu einem Kerngeschäft der Tagsatzung, die nach der Niederlage von Marignano die Handelsfreiheit der Eidgenossenschaft in der Frühen Neuzeit sicherte.
Marignano ist bekannt für die Schlacht im Jahr 1515, welche die Eidgenossen gegen den König von Frankreich verloren und in deren Nachgang sie auf Expansionskriege verzichteten. Die Niederlage führte zu einem bedeutenden «Freihandelsabkommen». In diesem Ewigen Frieden von 1516 sicherte Franz I. von Frankreich der Eidgenossenschaft freien Zugang zum französischen Absatzmarkt zu. Im Gegenzug durfte Frankreich in den eidgenössischen Orten Söldner ausheben. Die Schlacht von Marignano bildete den Auftakt zu einer mehrere Jahrhunderte dauernden Phase des Freihandels zwischen der Eidgenossenschaft und der damaligen Grossmacht in Europa: Frankreich. Dies war umso wichtiger, als auf den Ewigen Frieden folgend die Reformation nicht nur religiöse, soziale und politische Umwälzungen brachte, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz bedeutende Folgen hatte. Wirtschaftliche Anliegen, insbesondere die Freiheit der eidgenössischen Kaufleute, waren sozusagen die Triebfeder der Anerkennung der Souveränität der eidgenössischen Orte durch die europäischen Grossmächte und letztlich der Bildung des Schweizer Staates. Die Tagsatzung schickte ad hoc Gesandte etwa an den französischen Königshof, die für die Schweizer Kaufleute intervenierten. Auch zum Westfälischen Frieden von 1648 war der Bürgermeister von Basel, Johann Rudolf Wettstein, ursprünglich nur angereist, um zu erreichen, dass die Basler Kaufleute nicht mehr vor das Gericht des Heiligen Römischen Reichs zitiert würden, sondern einzig der Basler Gerichtsbarkeit unterstünden. Erst ein französischer Gesandter brachte Wettstein auf die Idee, über die Souveränität der Schweiz zu verhandeln. Somit nahm mit dem Westfälischen Frieden von 1648 die Reichsunmittelbarkeit ein Ende und die Souveränität der Eidgenossenschaft, damals noch ein loser Verbund kleiner Orte, ihren Anfang. Nebenbei hob der Westfälische Frieden für die reformierten Gebiete das Zinsverbot der katholischen Kirche auf und legte damit einen frühen Grundstein für den Finanzplatz Schweiz. Die im Westfälischen Frieden garantierte Souveränität war politisch, die Eidgenossenschaft wurde somit erst recht zum Exilland Europas, doch gerade dadurch begann ein wirtschaftlicher Boom sondergleichen. Hugenottische Flüchtlinge aus ganz Europa brachten wirtschaftliche Innovation und Netzwerke in die Schweiz, sodass die Schweiz im 18. Jahrhundert und damit am Vorabend der Französischen Revolution das am stärksten industrialisierte Land Europas war. Aus einem Land der Kaufleute und Söldner war kurz vor der napoleonischen Ära ein Industrieland geworden.
Kaum hatte also die Eidgenossenschaft ihre Ansprüche auf Expansion mit der Schlacht von Marignano im Jahr 1515 aufgegeben, so strömten aufgrund der Reformation umgekehrt gut ausgebildete und unternehmerische Protestanten aus Frankreich, Italien und den deutschen Landen, aber auch aus Ungarn, Spanien oder England in die Schweizer Orte. Diese Glaubensflüchtlinge brachten nicht nur ihr Kapital in Form von Vermögen mit, sondern auch Humankapital in Form von Wissen über Industrie und Finanzwesen sowie Erfahrung. Die innovativen Ideen wurden von den bürgerlichen Mittelschichten aufgenommen, vor allem in Genf, Neuenburg, der Waadt und im Aargau. Weshalb in teure Expansionskriege investieren, wenn Vermögen und Innovation von allein in die Schweiz kamen? Die kantonalen Handelskammern – und somit im weitesten Sinne Economiesuisse – gehen auf Kommissionen zurück, welche die eidgenössischen Orte bildeten, um die Refugianten zu betreuen. In vielen Fällen waren die ersten kantonalen Handelskammern also Wirtschaftskommissionen, die dafür zu sorgen hatten, dass die protestantischen Glaubensflüchtlinge ihr Vermögen und ihr Know-how in der Schweiz optimal zur Geltung bringen konnten. Während die Hugenotten Seidenbandmanufakturen, Bankhäuser und Uhrenwerkstätten eröffneten, blieben die Wirtschaftskommissionen bestehen und stellten die Institutionen bereit, die für eine reibungslose Wirtschaftstätigkeit vonnöten waren. So waren die kantonalen kaufmännischen Direktorien beispielsweise noch bis zum 18. Jahrhundert um den Postdienst besorgt, stellten Regelungen und Schiedsgerichte auf und dienten auch als Förderer von Forschung und Entwicklung, so etwa mit Preisausschreiben, Prämien und Beiträgen. Die kantonalen Handelskammern bildeten sich als Rahmeninstitutionen für die Industrialisierung der Schweiz aus. Das 17. Jahrhundert brachte eine zweite Welle von Flüchtlingen, diesmal hauptsächlich aus Frankreich, wo 1685 der Sonnenkönig Ludwig XIV. das Edikt von Nantes widerrief, das den Hugenotten Schutz garantiert hatte. In dieser zweiten Welle der Verfolgung von Protestanten in Europa kamen allein aus Frankreich innert weniger Jahre über 60 000 Flüchtlinge in die Schweiz, die damals etwa eine Million Einwohner aufwies. Mehrere weitere Tausend folgten aus Italien und Deutschland. Viele von ihnen reisten allerdings weiter in die Pfalz, nach Böhmen oder Preussen.
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