Die Gründung unseres Verbands erfolgte am 12. März 1870 im Hinblick auf die Totalrevision der Verfassung des noch jungen Schweizerischen Bundesstaates. Exponenten der kantonalen Handelskammern gründeten einen nationalen Verein, um die Anliegen der Unternehmen vertreten zu können. Als ein europaweites Novum schrieb sich die Schweiz die freie Marktwirtschaft in die Verfassung von 1874. Die «Handels- und Gewerbefreiheit», so der etwas sperrige Ausdruck, sollte auf dem gesamten Gebiet der Eidgenossenschaft gelten. Allerdings legte unsere damalige Verfassung auch fest, dass die freie Marktwirtschaft in Notzeiten, zum Beispiel bei «Epidemien und Viehseuchen» (Art. 31b), eingeschränkt werden darf. Genau das haben wir in den vergangenen zwölf Monaten erlebt.
Während wir in «unserem» Jubiläumsjahr also einer Pandemie gegenüberstanden, fiel das 75-Jahre-Jubiläum auf den 12. März 1945, als der Zweite Weltkrieg noch in vollem Gange war. Als der Verband nach Kriegsende im September 1945 dem Jubiläum gedachte, lag Europa in Trümmern. Zum 100-jährigen Bestehen 1970 durfte der Verband hingegen auf ein bisher nie gesehenes Wirtschaftswachstum, das «Wirtschaftswunder», in ganz Europa zurückblicken.
Zum 150-Jahre-Jubiläum im Jahr 2020 dürfen wir aufgrund der aktuellen Pandemie mit Dankbarkeit feststellen: Die Schweiz funktioniert. Die oft als schwerfällig belächelte Vereins- und Verbandskultur des Landes hat sich in der Corona-Krise als konstruktive Kraft erwiesen. Allein im Bereich Wirtschafts- und Berufsverbände gibt es heute – arbeitgeber- und arbeitnehmerseitig – mehr als 1700 Organisationen, die für ihre Mitglieder praxistaugliche Lösungen ausarbeiten. Als Wirtschaftsdachverband repräsentiert Economiesuisse auf nationaler Ebene 20 kantonale Handelskammern, rund 100 Branchenverbände und rund 100 000 Unternehmen mit rund zwei Millionen Arbeitsplätzen in der Schweiz und nochmals über 2,1 Millionen Arbeitsplätzen im Ausland, viele davon im globalen Süden.
Die Schweiz ist nicht nur in Europa, sondern global stark vernetzt. Langfristige Investitionen, Know-how-Transfer und die Zusammenarbeit mit Menschen aus allen Kulturen der Welt sind für die Schweizer Unternehmen seit dem 19. Jahrhundert gelebter Alltag. Unsere offene Volkswirtschaft stand seit jeher im Austausch mit der Welt. Schweizer Kaufleute zogen nach Asien, Lateinamerika und Afrika, während Menschen aus aller Welt in der Schweiz eine neue Heimat fanden.
Doch Jubiläen sind verführerisch, sie verleiten zu Mythen und Legendenbildung. Das wollten wir nie, wenn wir 150 Jahre Economiesuisse feiern. Eine von Selbstbeweihräucherung durchströmte Nabelschau unseres Verbands hätte uns zutiefst widerstrebt. Nicht Eitelkeit hat uns angetrieben, sondern Neugier: Was offenbart uns ein kritischer, wissenschaftlich geschärfter Blick in die Archive? Was lehrt uns die Geschichte der Wirtschaftspolitik unseres Landes? Und vor allem: Welche Erfahrungen in der Vergangenheit können uns Orientierung geben in einer unsicheren Gegenwart?
Es freut uns, dass die Basler Wirtschaftshistorikerin Andrea Franc die Entwicklung der Schweizer Wirtschaftspolitik von der napoleonischen Kontinentalsperre bis zu Trumps America-First-Politik und die Rolle von Economiesuisse in dieser Entwicklung aufgearbeitet hat. In minutiöser Kleinarbeit hat sie die Archive des Verbands durchforstet und ihre Erkenntnisse zusammenfassend in den Kontext politischer und wirtschaftlicher Ereignisse in der Schweiz der vergangenen 200 Jahren gestellt.
Wir wünschen uns mit diesem Buch, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, durch den Unternehmermut unserer Vorfahren inspiriert werden und mit Tatkraft die anstehenden Herausforderungen meistern.
Zürich, im Februar 2021
Christoph Mäder, Präsident Economiesuisse
Monika Rühl, Vorsitzende der Geschäftsleitung Economiesuisse
Schweizer Unternehmen in der Weltwirtschaft
Pioniere der Globalisierung
Warum ist die Schweiz das wohlhabendste und politisch stabilste Land der Welt? Weil sie lange – Polemiker mögen sagen, sogar heute noch – gar kein eigentliches «Land» war. Es fehlte ein König, eine dominierende Partei oder Ethnie, ein mit Vetorecht ausgestatteter Präsident, sprich: ein planender Zentralstaat mit einer Agenda. Noch heute haben viele Schweizerinnen und Schweizer Mühe, die Namen der sieben Bundesräte auf Anhieb korrekt aufzuzählen. Die Menschen haben stets selbst die Politik bestimmt, die ihnen zugutekam. Seit Jahrhunderten tragen auf dem Gebiet der Schweiz die kleinstmöglichen Gemeinschaften die Verantwortung für ihr eigenes Wohlergehen und haben stabile und gleichzeitig dynamische Institutionen geschaffen, die Frieden, Sicherheit und Wohlstand garantieren. Unternehmer wurden von keiner ausgabefreudigen und besserwisserischen Obrigkeit durch Steuern und Vorgaben behindert, aber sie mussten sich dafür selbst um aussenpolitische Belange kümmern. Schon im Spätmittelalter handelte die Eidgenossenschaft Abkommen mit europäischen Herrschern aus. Im 19. Jahrhundert, mit der zunehmenden Industrialisierung und Globalisierung, kümmerten sich Unternehmer der Schweizer Kantone um zahlreiche staatliche Belange, angefangen beim Postwesen über den Abschluss von Handelsverträgen mit den Königshäusern Europas bis zu diplomatischen Missionen im damaligen Konstantinopel oder in Schanghai. So erstaunt es nicht, dass der Schweizerische Unternehmerverband Economiesuisse mit dem Gründungsjahr 1870 der mit Abstand älteste (und innenpolitisch bedeutendste) Unternehmerverband der Welt ist. Zudem baut der nationale Verband auf noch länger bestehenden kantonalen Handelskammern auf, deren Geschichte teilweise bis ins Mittelalter zurückreicht. Interessanterweise ging die wirtschaftliche Innovation allerdings oft von der bürgerlichen Mittelschicht in den Städten aus, notabene Untertanen, die erst 1798 in der Helvetischen Republik Mitsprache erhielten. Auch Flüchtlinge aus ganz Europa brachten über Jahrhunderte hinweg Kapital und Know-how in die Schweiz. Innovative Unternehmerfamilien konnten jedoch über Generationen hinweg zum Teil des Patriziats werden, indem sie das Bürgerrecht einer Stadt erwarben. Die meisten eidgenössischen Orte waren patrizisch geprägt und ausgerechnet die direktdemokratischen Landsgemeindeorte in der Innerschweiz waren ökonomisch strukturschwach und haben kaum Innovation hervorgebracht.
Das Primat der unternehmerischen Freiheit vor der politischen Agenda eines Zentralstaates entstand eigentlich aus der Not. Man besinne sich: Die Urschweiz ist eine unwegsame Felsengegend, die zu Zeiten des Rütlischwurs von den Habsburgern teilweise gar nicht erst besteuert wurde, weil sich der mühselige Ritt in eine solch arme Gegend für die Steuereintreiber schlicht nicht lohnte. Es fehlte das politische Glanz und Gloria einer geschichtsträchtigen Monarchie, das die grossen Feldherren militärisch provoziert hätte. Die Provokation, die Rolle der Schweiz als kleines Land mitten in Europa, das sich der politischen europäischen Institution nicht unterordnet, ist neu und entstand erst langsam im Rahmen der Verhandlungen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) als eines «freien» Zusammenschlusses 1960, wobei die Schweiz mit Grossbritannien federführend war. Wiederum entstand diese Rolle der Schweiz aus der Not: Nichts verabscheuen Unternehmer – klein, mittel oder gross – mehr, als politische Aufmerksamkeit zu erregen. Vor dem Hintergrund der langjährigen Zusammenarbeit der Schweiz mit Grossbritannien ausserhalb der EWG und des am 1. Februar 2020 vollzogenen Austritts der Briten aus der Europäischen Union (EU) erstaunt es nicht, dass es liberale britische Denker waren, die sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die freihändlerische Tradition der Schweiz interessierten. In den 1830er-Jahren bereiste der britische Unterhausabgeordnete Sir John Bowring mehrere Kantone der Schweiz, besuchte Rathäuser, Manufakturen, Schulen und Gefängnisse und unterhielt sich eingehend mit den Präsidenten der kantonalen Handelskammern. Dies tat Bowring notabene zu einer Zeit, als die Schweiz ein armes Auswanderungsland war, gleichzeitig aber die liberalen Grundlagen für den späteren Wohlstand gelegt wurden. Der Bowring-Report von 1836 zeigt auch noch im 21. Jahrhundert eindrücklich, was den «Wesenskern des Liberalismus» und damit die Schweiz ausmacht: Der Wohlstand der Nation basiert auf den Myriaden von Entscheidungen einzelner Menschen, die im Kleinen Verantwortung übernehmen. Nicht ein absolutistischer Herrscher bestimmte die Geschicke des Landes, sondern unzählige Ratsherren, Bürgerkorporationsvorsitzende, Tagsatzungsabgeordnete, Kommissionsmitglieder, Gemeinderäte, Kantons- und Bundespolitiker, Verbandsdirektoren, aber auch Arbeiter, Bauern und Hausfrauen. Das letzte Wort hatte in manchen Kantonen die Landsgemeinde, im Bundesstaat das Volk. Kantonale Handelskammern gründeten 1870 einen nationalen Verein, den Schweizerischen Handels- und Industrieverein (SHIV), heute Economiesuisse, doch bis ins 20. Jahrhundert bedeutete dies einzig, dass jeweils eine kantonale Handelskammer im Rotationsprinzip wie in der Alten Eidgenossenschaft den Vorort übernahm, sprich, die anderen Kammern erst konsultierte und danach die Geschäfte führte.
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