Ein Jahr darauf stand das Mariazeller Paarzeitfahren wieder auf dem örtlichen Rennkalender. Und natürlich kehrt man gerne an den Platz seines Triumphes zurück. Doch diesmal hatte der Rote Kenianer in Ausbildung leider keine Zeit. Aber er suchte und fand hochkarätigen Ersatz. Einen zigfachen Ironman, den er aus dem örtlichen Triathlonverein kannte. Als dieser in Mariazell seine Zeitfahrmaschine auslud, war es beim Kenianer Liebe auf den ersten Blick zu solch einem Turbogefährt. Auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, es würde nicht bei sehnsüchtigen Blicken bleiben. Aber dazu später. Auch diesmal war die Taktik klar, ohne dass sie viel darüber reden mussten. Vereinfacht gesagt, war es die Schlusstaktik des Vorjahres ausgedehnt auf das ganze Rennen, denn er würde von Anfang an versuchen müssen, irgendwie an dem Hinterrad des „eisernen Kollegen“ dran zu bleiben. Dass dieser stärker war als er, stand außer Frage.
Er musste schon nach einigen Kilometern die Beine in die Hand nehmen und strampeln, was das Zeug hielt. Noch gelang es ihm, auch einen Teil der Führungsarbeit zu übernehmen, aber lange würde das nicht gut gehen. Der Ironman machte ordentlich Dampf. Gnadenlos. Und noch etwas unterschied ihn vom Roten Kenianer in Ausbildung. Nicht nur, dass sich seine Gesichtsfarbe kein bisschen veränderte, Mr. Pokerface verzog auch keine Miene. Während dem Roten Kenianer zu diesem Zeitpunkt schon lange sämtliche Gesichtszüge entglitten gewesen wären, machte der vierfache Teilnehmer der Ironman-Weltmeisterschaften auf Hawaii noch immer das entspannte Gesicht vom Start. Doch plötzlich wurde er langsamer. „Irgendwas stimmt mit meinem Vorderreifen nicht. Ich habe einen Platten“, meldete er. Der Kenianer atmete erleichtert durch. Diesen Reifenschaden schickte der Himmel seinen brennenden Oberschenkeln. Gekonnt spielte er den Trauernden. „Na geh – jetzt waren wir so gut drauf. Und ich wollte am Schluss noch mal so richtig andrücken!“, log er, dass seine ohnehin schon übersäuerten Muskeln fast zu verkrampfen begannen. „Dürfte nur ein Schleicher sein,“ hörte er Ironman sagen und traute seinen Ohren nicht. „Wenn wir Vollgas geben, geht es sich bis ins Ziel aus!” Der „Eiserne“ hatte noch nicht einmal zu Ende gesprochen, als er seiner Zeitfahrmaschine schon wieder die Sporen gab. Der Kenianer, dessen Systeme schon begonnen hatten, runterzufahren, machte einen Warmstart und fügte sich seinem Schicksal. Willkommen zurück im Tal der Schmerzen, großer Schmerzen!
Während sein Vorderreifen immer weicher wurde, fuhr der „unerbittliche Eiserne“ immer härter. Der Kenianer hing schon lange in den Seilen. Aber er zeigte Nehmerqualitäten und blieb irgendwie am Hinterreifen von Mr. Pokerface, der im Schlussanstieg weder daran dachte Tempo rauszunehmen, noch sich für einen Augenblick so etwas wie Anstrengung anmerken zu lassen. Nicht nur, dass seine Gesichtszüge stoisch ruhig blieben. Er saß auch wie aufgemalt im Sattel, während sich der Kenianer längst wand, als hätte er Juckpulver in der Radhose. Was seine Beine nicht mehr brachten, versuchte er irgendwie mit ganzem Körpereinsatz wett zu machen.
Der eine elegant und wie aus dem Radsport-Katalog, der andere mit weit aufgerissenen Augen – und wie einem Zombie-Film entsprungen –, rasten sie über die Ziellinie. Mit einer schnelleren Endzeit als im Vorjahr. Doch dieses Jahr war der Wettbewerb stärker besetzt. Es reichte aber für Platz 3. Und wieder stand er auf dem Stockerl 21. Daran könnte er sich gewöhnen. Die Bronzefarbe des Pokals ging mit ein wenig Fantasie sogar als Gold durch.
Und beide, sowohl Mr. Pokerface als auch dessen Zeitfahrmaschine, sollten für ihn noch zwei ganz wichtige Begleiter auf dem Weg zum Weißen Kenianer werden.
20 Belgische Reihe bezeichnet beim Radsport eine Formation, die einer Gruppe von Radfahrern durch effektives Ausnutzen des Windschattens und Ablösen bei der Führungsarbeit eine energiesparende Fahrweise ermöglicht. Sie besteht aus zwei Einzelreihen, die sich gegeneinander bewegen, d. h. eine Reihe fährt schneller, die andere (abgelöste Fahrer) zirka zwei Stundenkilometer langsamer.
21 steirisch für Siegerpodest.
Kapitel 7
Die Sache mit dem Cabrio ...
Wie geschworen, kehrte er ein Jahr später zurück zum Vereins-Einzelzeitfahren. Und wie prophezeit, wollte er mehr, viel mehr. Er griff nach den Sternen und hatte nur ein Ziel: Gewinnen! Vereinsmeister werden. Okay, zugegebenermaßen, der Weiße Kenianer in Ausbildung griff nach Sternchen. Ganz kleinen. Nach unbedeutenden Provinz-Sternchen unter Hobbysportlern. Nach der Titelseite des Pfarrblattes. Jedenfalls hatte er dafür nicht nur viel und hart trainiert, sondern auch investiert. Schon im Winter schloss er mit sich, seinem Stahlross und seinem Bankkonto einen Deal. Wenn er in der Sommer-Saison 5000 Kilometer schaffen würde, dann winkte als Belohnung ein neues Rennrad. Sein Ein- und Aufstieg ins Carbonzeitalter. Doch damals war er noch kein Material-Junkie. Damals durfte gutes Material noch nicht kosten, was es wolle. Damals glaubte er noch nicht an das erste und einzige Gebot seines späteren Stammeshäuptlings: „Am Material darf es nicht scheitern!“ Damals war er noch ein Ungläubiger. Damals war er noch schuldenfrei. Schön war die Zeit!
Also wurden Preise verglichen bis die Augen schmerzten. Relativ rasch stellte sich dabei heraus, dass man übers Internet am billigsten „fährt“. Jedenfalls entdeckte er einen deutschen Direktversand, der seine High-Tech-Geräte ausschließlich übers Internet anbot und so preislich fast unschlagbar schien. Dazu hatte er zudem noch das Glück, dass in seiner Rahmengröße „Wadenhüter“ keine Seltenheit waren. Auch in Onlineshops. Wie gesagt: er war noch ohne Bekenntnis, material-religionstechnisch. Und so entschied er sich letztendlich für ein stark im Preis herabgesetzes Vorjahresmodell: Rahmen und Gabel aus Carbon, komplett DURA ACE 22bestückt. Luxus pur. Fast schon dekadent. Er war im siebten Rennradhimmel. Vonseinem Stahlross ausgehend war das ein unglaublicher Evolutionssprung. Zusätzlich leistete er sich fürs Zeitfahren einen richtigen Aufleger. Einen, der mehr als zehn Euro kostete. Empfindlich mehr. Genau gesagt 140 Euro mehr. Als er den Preis sah, musste er laut lachen. Denn die zwei verbogenen Alustangerl kosteten genauso viel wie sein erstes Stahlross. Aber für ergonomisch geformte Teile, die schnell aussahen, zahlte man den Preis gerne. „Völlig gerechtfertigt“, dachte er sich.
Der Carbon-Flitzer kam per Post. Schön verpackt und vormontiert. Mit wenigen Handgriffen war die neue Waffe einsatzbereit gemacht. Doch bevor es losgehen konnte, musste er seinen ebenfalls neuen Radcomputer montieren. Jeder einzelne Meter sollte für die Nachwelt aufgezeichnet werden. Fertig! Kurzer Systemcheck. Wunderbar, die Pulsmessung funktionierte auch. 160 Puls, obwohl er noch keinen Meter gefahren war. Tja, bei großer Freude schlägt unser Herz nicht nur höher, sondern auch schneller.
Da er nichts dem Zufall überlassen wollte, war er die Strecke des Vereinszeitfahrens einige Male abgefahren, hatte deren Profil analysiert. Zuerst ging es acht Kilometer taleinwärts, immer leicht bergauf mit ein paar kleinen Hügeln, die beim Zeitfahren das Zünglein an der Waage sein könnten. Diese leichten, lang gezogenen Steigungen haben nur ein Ziel, sie möchten die Durchschnittsgeschwindigkeit möglichst weit nach unten drücken. Nach der Wende ging es – logischerweise – immer leicht fallend retour zu Start und Ziel. Genau sein Streckenprofil. Optimal. Eher suboptimal war die erste Hälfte der Rennstrecke für ihn. Doch er hatte einen Masterplan, einen gewagten. Er würde einfach so fahren, als wäre der Wendepunkt das Ziel. Auch wenn er völlig blau angelaufen zur Wende kommen würde, am Retourweg würde er nicht mehr viel Zeit verlieren.
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