Versuchen Sie niemals in extrem unterzuckertem Zustand, am ganzen Körper zitternd, für ihre geliebte Gattin eine Rose zu schießen! Die Gefahr, dass der Schießbuden-Mann dies nicht überlebt, ist sehr groß. An diesem Tag war es Gott sei Dank „nur“ ein Streifschuss.
Pluspunkte kann man an einem solchen dunkelgrauen Familien-Sonntag nur bei der Schwiegermutter sammeln, wenn man alles, aber auch wirklich alles, was sie auftischt, in sich hineinschlingt. An diesem Tag sogar gerne! Nach einem ausgewachsenen Hunger-Ast isst man alles, was nicht schnell genug weglaufen kann.
Bei der gemeinsamen Nachhausefahrt im Familien-Auto ist unser Hobby-Sportler wieder ganz der coole Daddy, scherzt mit seinen süßen Kiddies und lässt diesen heroischen Tag noch einmal in aller Ausführlichkeit Revue passieren. Das liebt die ganze Familie! Die Frau am Steuer, die ihre Begeisterung nur deshalb nicht zum Ausdruck bringen kann, weil sie sich „auf den Verkehr konzentrieren muss“, die Kinder, die stolz über den Schilderungen ihres Hel-den-Papi einschlafen, wissend, dass er, wenn es um sein geliebtes Training geht, ein Dampfplauderer ist, dem der Dampf, dort wo er bei seinen Touren von Nöten wäre, leider fehlt – nämlich in seinen Schenkeln. Das bricht einem fast das Sportlerherz, das Vater-Herz ist ohnehin schon längst vor Scham in die Hose gerutscht.
Doch urplötzlich verstummt der Hero. Denn Schwiegermuttis Essen verlässt ihn und den Wagen durch das Seitenfenster – und das während der Fahrt.
Gott sei Dank findet er immer wieder die passenden Worte für jede Situation und durchbricht die eisige Stille mit der Frage: „Und sonst – wie geht’s?“ Die Antwort seiner Frau, nämlich keine, bekommt er schon nicht mehr mit. Denn in dieser Sekunde holt ihn gerade rechtzeitig der Schlaf, während sie erstmals über Scheidung nachdenkt. Ein richtig guter Tag ...!
16 Volksfest
17 Der Pogusch ist ein 1.059 Meter hoher Alpenpass in der Obersteiermark.
18 Der Steirische Seeberg (auch Aflenzer Seeberg) ist ein 1.246 Meter hoher Gebirgspass in der Steiermark.
19 Ein chronisches Leiden des Weißen Kenianers, das ihn auch im Alltag ständig begleitet. Beim Training und bei Wettkämpfen hat der Weiße Kenianer den Hunger-Ast (plötzlicher Leistungseinbruch des Körpers infolge eines Mangels an Kohlenhydraten), der manchmal sogar zu ganzen Bäumen mutiert, zur Kunstform erhoben. Mit Fressattacken vor und nach Wettkämpfen versucht er bisher vergebens, diesen Herr zu werden.
Kapitel 6
Zu zweit stirbt man weniger allein
Seit seinem ersten Einzelzeitfahren hat er eine neue Liebe. Den Kampf Mann mit Maschine gegen die Uhr. So musste ihn ein Vereinskollege auch nicht lange bitten, als dieser fragte, ob er Lust habe, mit ihm beim traditionellen Mariazeller Paarzeitfahren an den Start zu gehen. In Zweierteams kämpft man abwechselnd, aber dennoch gemeinsam gegen den größten Feind des Zeitfahrers: den Luftwiderstand.
Dabei gilt es, sich möglichst schnell und ohne Geschwindigkeitsverlust in der Führungsarbeit abzuwechseln. Gemeinsam mit seinem Partner wurde bei der Anfahrt nach Mariazell im Team-Bus die Taktik besprochen. Der Rote Kenianer in Ausbildung war der kleinere und leichtere Adonis der beiden und auf jeden Fall der bessere Bergfahrer. 30 selektive Kilometer galt es auf einer Pendelstrecke zu bewältigen. Die Hetzjagd begann mit einem längeren Bergabstück, das dann später zum Schlussanstieg – der es in sich hatte – wurde. Folgende Marschroute legten sie sich zurecht. Der Weiße Kenianer in Ausbildung würde sich vom Start weg – solange es bergab ging –vorspannen, um die Schwerkraft optimal für das Gespann auszunützen. Dann würden sie in einen schnelleren, gleichbleibenden Rhythmus wechseln, bis sie wieder zum Schlussanstieg kämen. Vor diesem härtesten Teil der Strecke würde er wiederum ein wenig mehr Führungsarbeit übernehmen, sich dann hinter den besseren Bergfahrer zurückfallen lassen und zugleich versuchen, irgendwie an dessen Hinterrad zu bleiben. Gestoppt bzw. gewertet wurde nur die Zeit des Zweiten im Duett. Es brachte also überhaupt nichts, wenn einer dem anderen davon fuhr – im Gegenteil.
So gut der Plan in der Theorie klang, so gut funktionierte er auch in der Praxis. Zumindest zu Beginn. Vernunft und Angst auf „stand by“ geschaltet, stürzte er sich die engen Kehren hinunter und nahm Fahrt auf. Sein Partner kauerte in seinem Windschatten und versuchte möglichst viel Energie zu sparen. Sobald es flach wurde, begannen sie mit der berühmten Belgischen Reihe 20– allerdings nur zu zweit. Sie fanden schnell einen guten Rhythmus und es klappte wie am Schnürchen. Einziger Wermutstropfen: Im Wind dauert eine Minute gefühlte Ewigkeiten, im Windschatten vergeht sie wie im Flug.
Der Rote Kenianer in Ausbildung sollte später seinen Namen zu Recht bekommen, denn am Rötegrad seines Gesichtes ließ sich ganz genau ablesen, wie sehr er schon am Limit fuhr. Von entspanntem Zartrosa war er an der Wende schon ziemlich weit entfernt, aber sein Wettkampf-Rot lag noch im grünen Bereich. Die Schenkel des Kenianers brannten wie Feuer, aber auch das war beim Zeitfahren „part of the game“.
Gute zwei Kilometer vor dem Schlussanstieg setzte sich der Kenianer wie geplant an die Spitze des dynamischen Duos. Er presste noch einmal alles für das Team aus sich heraus. Ganz ehrlich. Viel war es nicht mehr. Und dann kam der gefürchtete Anstieg. Der Rote ging vorbei. Der Kenianer heftete sich an dessen Hinterrad. Fixierte es, versuchte es zu hypnotisieren. Irgendwie musste es ihm gelingen, dran zu bleiben, nicht abzufallen. Er stemmte sich in die Pedale, versuchte ein mentales Seil um die Sattelstütze des Vordermanns zu legen. Jede Faser seines Körpers war bereit, bereit alles zu geben. Bereit für den Schmerz, für das Brennen in den Lungen, die Krämpfe in den Beinen.
Aber irgendwie kam es nicht so, wie er es herbeigesehnt – Trainer-Neudeutsch visualisiert – hatte. Er war alles vor dem Start noch einmal im Kopf durchgegangen. Aber es half nichts, einmal mehr zeigte sich, dass Theorie geduldig ist. Im Wettkampf kommt es oft anders, ganz anders als man denkt. Denn es fiel ihm überhaupt nicht schwer dem Hinterrad des Roten zu folgen. Im Gegenteil. Es ging ihm sogar zu langsam. Wo blieb der unwiderstehliche Antritt der Bergziege?
Also setzte er sich neben seinen Teamkollegen. Sofort sah er, was los war. Dessen Kopf war dunkelrot angelaufen, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, der Mund weit aufgerissen. Er wusste, dass sich der Rote Kenianer in Ausbildung quälen konnte wie kein Zweiter. Ein Sportler, der sich und seinem Körper im Wettkampf nichts schenkte. Der Rote machte keine halben Sachen. Er nahm in der Schlacht weder auf Material noch auf sich selbst Rücksicht. Vollgas bis zum lactat-bitteren Ende. Aber dennoch, irgendwas stimmte nicht. Das Dunkelrot war sogar für seine Verhältnisse zu rot, und vor allem der leichte Grünstich um die Nase verhieß nichts Gutes. „Wenn sich mein Pulsschlag noch um einen einzigen Schlag erhöht, dann fällt mir das Essen aus dem Gesicht“, keuchte er verzweifelt: „Mir stehen die Spaghetti bis zum Hals!” Und da er sich die Spaghetti nicht noch einmal durch den Kopf gehen lassen wollte, reduzierten sie das Tempo und fuhren nebeneinander, so schnell es die Umstände noch zuließen, den Berg hoch. Da es nur mehr wenige Hundert Meter bis ins Ziel waren, hielt sich der Schaden in Grenzen. Die Endzeit konnte sich trotzdem sehen lassen, und in ihrer Altersklasse reichte es sogar für Platz 2! Der Weiße Kenianer in Ausbildung stand zum ersten Mal auf einem Podest und schnupperte die Höhenluft der Sieger. Selbst wenn es nur Rang 2 in der Altersklasse bei einem doch eher bescheiden besetzten Provinzrennen war, es fühlte sich gut an. Saugut! Und es gab einen Pokal. Er hatte noch nie einen Pokal gewonnen. Auch wenn die Keramik-Plastik, die wohl nie einen Designerpreis gewinnen würde, nur mit Silberfarbe angepinselt war, glänzte sie für ihn wie pures Gold.
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