Dass die Nation für ihre Bürgerinnen und Bürger keine Selbstverständlichkeit ist, sondern bloss eine vorgestellte Gemeinschaft, eine imagined community, hat der amerikanische Politologe Benedict Anderson überzeugend dargelegt. 7Mit der Definition eines Territoriums, einer Staatsform und einer Regierung ist es nicht getan; damit eine Nation funktioniert, braucht es die Verpflichtung aller Einzelnen auf dieses Gebilde. Sie müssen sich die kollektive nationale Identität zu Eigen machen und sie beständig aktualisieren, und dies, obwohl ihre «Gemeinschaft» nicht im Alltag erfahrbar, sondern bloss imaginiert ist. Eine Nation besteht erst, wenn ihre Mitglieder an sie glauben und sich ihr emotional verbunden fühlen. Traditionellerweise hiess es auf die Frage, wie es zu solchen patriotischen Gefühlen kommt, sie seien Ausdruck davon, dass Menschen aufgrund übergreifender Gemeinsamkeiten – wie etwa Sprache, Kultur oder gar «Rasse» – Teil eines «Volkes» seien. 8In der mehrsprachigen, multikulturellen Schweiz tat man sich mit dieser Vorstellung allerdings stets schwer und verwies auf einen gemeinsamen «Willen», der zur Schweiz als «Willensnation» vernünftiger Bürger geführt habe.
Innerhalb der Nationalismusforschung wurde in jüngerer Zeit jedoch vermehrt darauf hingewiesen, dass Menschen sich ihre nationale Identität nicht durch vernunftgeleitetes Abwägen aneignen. 9Benedict Anderson etwa ist der Ansicht, die emotionale Bindung entstehe durch die konkrete Teilnahme an einem gemeinsamen Diskurs, beispielsweise bei der täglichen Zeitungslektüre. 10Andere, wie der Historiker Manfred Hettling, meinen, es brauche zusätzlich persönliche Erlebnisse, und zwar durch die Ausführung von Tätigkeiten, von denen angenommen wird, dass alle, die zur selben Nation gehören, daran partizipieren. Dabei spielen unmittelbare, sinnliche Erfahrungen wie Essen, Trinken, Lieder Singen oder körperliche Anstrengung eine wichtige Rolle, denn sie sind es, die den Menschen am stärksten in Erinnerung bleiben. 11Und wie schon weiter oben anhand der Fahrtenbücher bemerkt wurde, bedeutet etwas zu erinnern, es zur Konstruktion der eigenen Biografie, der eigenen Identität zu verwenden. 12Wer an Tätigkeiten teilgenommen hat, die allgemein als mit der Nation verknüpft angesehen werden, verbindet die eigene Identität mit der Nation – die Nation in Frage zu stellen, würde in der Folge heissen, sich selbst in Frage zu stellen. 13Hettling argumentiert, in der Schweiz sei für die Herstellung der emotionalen Bindung an die Nation insbesondere die Teilnahme an Schützenfesten, der Besuch von Landesausstellungen und das Reisen durch die Schweiz wichtig gewesen. 14Dieser These folgend, können Bergwanderungen als Besuch der imaginären Geburtsstätte der Nation betrachtet werden, wobei die Alpen nicht bloss einprägsames Symbol sind, wie Zimmer es dargelegt hat, sondern als liminaler Raum genutzt werden, in dem rituell nationale Identität gestiftet wird: Beim Wandern durch die nationale Erinnerungslandschaft schrieben sich Schweizerinnen und Schweizer die Heimat gleichsam in ihre Körper ein.
DIE ALPENLANDSCHAFT ALS STAATSPOLITISCHES LEHRMITTEL
Die Funktion der Alpen als Symbol ist eng verknüpft mit ihrer Nutzung als liminaler Raum. Dies zeigt sich in den Aussagen jener, die sich in den Anfangszeiten des Bundesstaates für den Alpenmythos stark machten. Besonders aufschlussreich sind die Schriften des Westschweizer Literaturprofessors Eugène Rambert (1830–1886), in denen er darlegt, wie die Schweiz natürlicherweise «gewachsen» sein soll und wie diese Erkenntnis zu popularisieren sei. Rambert war von 1882 bis 1884 Präsident des SAC und wurde zum Ehrenmitglied ernannt für sein von 1866 bis 1875 erschienenes sechsbändiges Werk «Les Alpes Suisses», das sämtliche alpinen Phänomene erfassen sollte; eine bunte Mischung aus wissenschaftlichen Beobachtungen, Tourenberichten, Gedichten, Geschichten und Beschreibungen von Gämsjagden und dergleichen.
1866 erklärte Rambert in einem einflussreichen Aufsatz mit dem Titel «Les Alpes et la liberté», warum die Nation Schweiz eine Notwendigkeit sei: Kein anderes Land habe so natürliche Grenzen wie die Eidgenossenschaft mit ihrem an eine Barriere gemahnenden «Alpenkranz». Dass dies eher Wunschvorstellung denn Realität war, kann leicht anhand einer Landkarte nachgeprüft werden: Das schweizerische Staatsgebiet ist keineswegs von Bergen, geschweige denn von den Alpen umrundet. Die Vorstellung, dies sei – zumindest auf einer höheren, metaphorischen Ebene – aber irgendwie doch so, ist bis heute weit verbreitet und spielte im Zusammenhang mit der Legitimation der Réduitstrategie während des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle. 15Ramberts Schweiz-Modell entsprach auch in anderen Punkten nicht so ganz der Realität: Er ignorierte die Passverbindungen über die Gebirgsketten und meinte, die Alpentäler seien derart in sich geschlossen, dass sie zwangsläufig zu souveränen Staaten hätten werden müssen – den Kantonen. 16Dass längst nicht jeder schweizerische Kanton einfach ein Tal ist, störte Rambert wenig beim Imaginieren einer perfekten, von der Natur geschaffenen Nation.
Die Alpen bestimmten gemäss Rambert aber nicht nur den Grenzverlauf der Schweiz und ihre föderalistische Gliederung, sondern auch die bestehende Staatsform, und zwar dadurch, dass sie angeblich den Charakter der in ihnen lebenden Menschen prägten: Weil «der Bergler» von Natur aus trittfester und scharfsichtiger sei und durch das Bewusstsein dieser Überlegenheit ein grosses Unabhängigkeitsbedürfnis empfinde, sei gar keine andere als die demokratische Staatsform möglich. Zudem führe die Armut der Berggegenden dazu, dass alle Schweizer gleich wenig besässen, weshalb es weder Herren noch Knechte gebe. In den engen Bergtälern schliesslich habe sich diese Staatsform unbemerkt entwickeln und festigen können. 17«La nature nous a octroyé ce dangereux privilège de ne pouvoir être que si nous savons être libres.» 18Damit griff Rambert direkt auf die von Haller und Rousseau verwendeten Topoi zurück.
Obwohl die Schweiz also angeblich per Naturgesetz gezwungen war, stetig zu jener modernen Nation zu werden, die Rambert kannte und schätzte, scheint er über ihre Legitimation im Vergleich mit anderen Nationen dennoch etwas unsicher gewesen zu sein und machte eine seltsame argumentative Kehrtwende, weg von der Natur, hin zur Kultur: Anders als Spanien oder Grossbritannien, so meinte er, sei die Schweiz keine Nation, die wegen ihrer Insellage notwendigerweise existieren müsse, und anders als Deutschland oder Italien habe die Schweiz auch keine «unité de sang et de raçe», nein, die Schweiz sei eine Willensnation, ein Zusammenschluss verschiedener im Prinzip souveräner und kulturell unterschiedlicher «Täler». Aber – so schlägt er den Bogen zurück – auch diese Willensnation sei von der Natur vorgegeben, und die Schweiz daher speziell verpflichtet, ihr Modell der Welt als leuchtendes Beispiel vorzuhalten. 19Die argumentativen Widersprüche hinderten Rambert also nicht, selbstbewusst das eigene Land als universelles Vorbild anzupreisen. 1871 bekräftigte er dies noch in seinem «Journal d’un neutre», indem er schrieb, es sei die Aufgabe der Schweiz, die Demokratie zu verteidigen und Europa durch ihre Neutralität zu dienen. Für den Fall, dass die Schweiz dennoch in einen Konflikt geraten sollte, empfahl er, eine zentrale Festung einzurichten, und nahm damit die vor allem im Zweiten Weltkrieg bekannt gewordene Strategie des réduit national in den Alpen vorweg. 20
Für Rambert war ganz selbstverständlich die Gesamtschweiz der Hauptreferenzpunkt nationaler Identität. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass sich Identität in der Regel eher am Nahen, Konkreten und vor allem sinnlich Wahrnehmbaren herausbildet, denn er fügte hinzu, neben dem Bund seien die Kantone für die Landesbewohner eine «zweite Heimat», die den Vorteil habe, erlebbar zu sein, indem man sie von einem Berggipfel aus auf einen Blick überschauen könne. Rambert empfahl deshalb, mindestens einmal pro Jahr quasi rituell auf einen Berg zu steigen. Von dort oben könne man «in den grossen Linien der Landschaft die Grundzüge unserer Geschichte» erkennen; 21in der Landschaft sei also sowohl die Geschichte wie auch die Identität des Staates enthalten. Ob auch die Historie von der Natur vorgegeben sei, dazu äusserte sich Rambert nur vage. Er meinte, zumindest «scheine» es, als seien diese «Linien» vorgängig ins «Buch der ewigen Ratschlüsse» geschrieben worden. 22
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