Während des Gesprächs beobachtet d’Affry den seltsamen, trockenen, sonnengebräunten Mann mit der gebogenen Nase, dem leicht olivfarbenen Teint und dem ungepuderten, zusammengebundenen Haar. Er ist mager, trägt einen einfachen Reiserock, nicht einmal eine Uniform. Aber von ihm geht eine unvergleichliche Anziehungskraft und Autorität aus, fast eine Faszination. Er ist der Held auf der Brücke von Arcole, den Gros unsterblich gemacht hat. In ihm steckt eine gewaltige Kraft. Man spürt, dass er die Ereignisse befehligen wird. Im Anschluss an das Gespräch verlässt Bonaparte Murten und erreicht noch am selben Abend Bern, das er hinter sich lässt, ohne an dem Bankett teilzunehmen, das ihm die «Oligarchen» bereitet haben. 190
Diese Begegnung ist für d’Affry ein gutes Omen, und bald schon kommt die Stunde, da er wieder im politischen Rampenlicht stehen wird.
DIE FRANZÖSISCHE VORMUNDSCHAFT UND DIE IDEE DER MEDIATIONSAKTE
Heute wissen wir, dass die Idee der Mediationsakte 1803, als der Erste Konsul die Schweizer Frage regelte, nur insoweit etwas Neues ist, als sich die Mediation nunmehr für die Schweiz insgesamt und nicht mehr nur für diesen oder jenen Teil der Eidgenossenschaft aufdrängte. Die Neuheit lag in der späteren Betrachtung der Mediation als einer aussergewöhnlichen Zeit. Gern wird vergessen, dass die Schweiz in in traditioneller Weise mit Frankreich liiert war und von einer fremden Macht abhing. Für uns bezeichnet die Mediation den Moment, in dem die Frankreichhörigkeit ihren Höhepunkt erreichte und dabei die gesamte Schweiz umfasste. Zuvor hatten die einzelnen Stände unterschiedene Abhängigkeiten von den benachbarten Mächten. Die strukturelle Trägheit der Tagsatzung hatte dies recht gut ertragen.
Die Rolle des Vermittlers fiel Bonaparte sehr schnell zu. Der Basler Peter Ochs (1752–1821) forderte ihn zum Eingreifen auf, um das unitaristische System durchzusetzen, und bat ihn gar, sich zum «Gesetzgeber der Schweiz» zu erheben – ein Angebot, das der General zum damaligen Zeitpunkt ablehnte. 191Ochs übernahm es also, den Verfassungsentwurf zu formulieren, nachdem er die Ansichten von Daunou und Reubell eingeholt hatte. 192Anschliessend überarbeiteten Merlin de Douai, Reubeull und Ochs 193gemeinsam den Text, der nach Guyot alles in allem «viel weniger an der Verfassung des Jahres 3 ausgerichtet ist, als man gemeinhin meint.» 194Die helvetische Verfassung vom 12. April 1798 errichtete eine in den Schweizer Annalen einmalige zentralisierte Republik.
STURZ DES CORPS HELVÉTIQUE (1798)
Zunächst musste ein Schlussstrich unter die Schweiz in ihrer ursprünglichen Gestalt gezogen werden. Dem Marschall d’Affry war bewusst, dass die Revolution, hätte sie erst einmal Einlass in die Schweiz gefunden, durch nichts mehr aufzuhalten sein würde und dass sein Vater lediglich Zeit gewann, indem er das Unvermeidliche hinauszögerte. Fünf Jahre Zeit, die kein Mensch dazu nutzte, irgendwelche Reformen einzuleiten. Louis d’Affry wurde zum herausragenden Akteur des Zusammenbruchs des Ancien Régime in Freiburg. Wie sehr musste es dem Kanton Freiburg an geeigneten oder mindestens zur Übernahme einer gewissen Verantwortung bereiten Männern mangeln, wenn man sich dazu entschloss, seine Dienste in Anspruch zu nehmen! Als sich die französische Bedrohung konkretisierte, hielten die drei Kantone Freiburg, Bern und Solothurn in Zofingen Kriegsrat ab, um die Verteidigung vorzubereiten. Dorthin begab sich Louis d’Affry am 10. Januar 1798 in Begleitung von Generalmajor Nicolas de Weck. Ihr Auftrag geschah in grösster Heimlichkeit. Fred von Diesbach rief uns in Erinnerung, dass die beiden Offiziere «ermächtigt waren, mit den Verbündeten einen gemeinsamen Verteidigungsplan aufzustellen, ohne dabei einem kompromittierenden Versuch des Staates Freiburg die Hand zu leihen und ohne sich den von Bern getroffenen Massnahmen anzuschliessen. Diesen strengen Massnahmen stand Freiburg ablehnend gegenüber. Die Republik erwies sich mal als hochfahrend und fest entschlossen, dann wieder als von Unentschlossenheit gelähmt und politisch gespalten.» 195Von seinem Vater wusste d’Affry um die traditionelle Unentschlossenheit der Kantone und gab sich darum hinsichtlich ihres kollektiven Abwehrwillens keinen Illusionen hin. Anfang 1798 breitete sich der Waadtländer Aufstand wie eine Pulverspur auf die Freiburger Vogteien aus. Louis d’Affry erhielt den Oberbefehl über die am 23. Januar von der Freiburger Regierung zur Verteidigung der Stadt und der Altländer ausgehobenen Truppen und nahm an den Beratungen des Geheim- und des Kriegsrats teil, der am 30. die Aushebung der Miliz dekretierte. Angesichts der Gefahr eines französischen Einmarsches beschloss der Freiburger Grosse Rat eine Verfassungsänderung, welche die Volkssouveränität zur Grundlage machte. Louis d’Affry gehörte also am 28. Januar 1798 dem Kriegsrat und dem Geheimen Rat an. Am selben Tag verabschiedete der Grosse Rat die Revision der für Freiburg gültigen Verfassung im Sinne der Volkssouveränität. Als sich die Waadtländer Kontingente am Stadteingang einfanden, verhinderte d’Affry, dass sich irgendjemand zeigte, und untersagte das Trommelrühren. Er liess sich gemeinsam mit Ignace de Montenach den Auftrag geben, mit den Ankömmlingen als Parlamentäre zu verhandeln, und zog danach «ein Lied trällernd» ab, wie ein Zeuge berichtet. Er redete mit den Waadtländern, gewann ihr Vertrauen durch Lieferung einiger Nahrungsmittel und erreichte, dass sie sich entfernten. Sie zogen in Richtung Belfaux ab. Freiburg atmete auf. Aber wenn es einem an Stärke fehlt, muss man diplomatisch zu handeln wissen. Indem er das Waadtländer Bataillon des Kommandanten Alioth aus Vevey zum Abmarsch bewegte, zögerte d’Affry eine vom Zusammenstoss zwischen Waadtländer und Freiburger Patrioten ausgelöste revolutionäre Bewegung um einige Wochen hinaus. Hier stellte d’Affry die ihm eigene, meisterhafte Kunst aus Umsicht und Geschicklichkeit unter Beweis, die er dazu benutzte, seiner Heimat die Geissel des Bürgerkriegs so weit wie möglich zu ersparen. Man fühlt sich an seinen Vater erinnert, dessen erprobte Rezepte er sichtbar angewendet hat, aber damit endet der Vergleich auch schon. Was ihm damals noch fehlte, war die politische Genialität. Dass d’Affry herbeigerufen wurde, zeigt, wie unverzichtbar er war. Als Mitglied des Geheimen Rates und Befehlshaber der Freiburger Truppen gab er sich alle Mühe, Freiburg die Schrecken eines nutzlosen Kampfes zu ersparen. Er wollte das schaffen, was seinem Vater am 10. August versagt blieb. Max von Diesbach unterstrich, «seiner charakteristischen Mässigung und seines ungebundenen Geistes wegen wurde er dazu berufen, mit dem kommandierenden General Brune zu verhandeln». 196Aber Ménards Nachfolger Brune brachte es fertig, die Regierenden einschliesslich Louis d’Affry einzuschläfern. Letzterer besass eindeutig nicht das Format seines Vaters. Fred von Diesbach schrieb: «Er liess sich von den Verhandlungen täuschen, die Brune mit ihm und seinen Nachbarn führte, um Zeit zu gewinnen. Für den Franzosen war das aber eine blosse ‹Finte›. Die Berner liessen sich trotz den Protesten ihrer Generäle einwickeln. Ihre Abgesandten, Schatzmeister Frisching und Oberst de Tscharner de St. Jean, kamen in Payerne an. Die Freiburger, Louis d’Affry mit dem Kanzler der Republik Simon Tobie de Raemy und Nicolas de Gady, gingen ebenfalls in die Falle. Ihre Weisungen waren nach Aussage Gadys ‹vage, fast sinnlos› und ‹liefen lediglich darauf hinaus, den General dazu zu bringen, dass er nicht in den Kanton Freiburg einmarschiere›, und er fügte hinzu, ‹Herr d’Affry legte unter diesen Umständen eine grosse Energie an den Tag, aber vergebens. Wir kehrten zurück, ohne ein anderes Ergebnis vorweisen zu können als die Gewissheit eines bevorstehenden Einmarsches in die Schweiz.›» 197
Der zur 18. Halbbrigade der Invasionsarmee in die Schweiz gehörige spätere französische General Jean Baptiste Materre schrieb anlässlich der Einnahme Freiburgs im März 1798 über d’Affry: «Nach den üblichen Aufforderungen wurden einige Kanonenkugeln abgefeuert; das veranlasste die Einwohner, zum Kommandeur der französischen Division einen Bevollmächtigten zu entsenden, um mit ihm die Übergabe der Festung auszuhandeln; sie delegierten Herrn d’Affry, vor der Revolution Oberst eines Schweizer Regiments im Dienste Frankreichs, einen versierten Höfling, geübt in Intrige und Versteckspiel, der die Freimütigkeit unseres Generals [Pijon] geschickt auszunutzen verstand, um ihn hinzuhalten, die Dinge in die Länge zu ziehen und damit seinen Auftraggebern die Zeit zur Evakuierung der Festung zu verschaffen, das Schönste und Beste wegzubringen und den Rest praktisch einsatzunfähig zu hinterlassen. General Pijon merkte ein wenig zu spät, dass ihn dieser gerissene Unterhändler an der Nase herumführte, liess Sergeant Barbe den Schutzwall ersteigen, sich beim Kommandanten die Stadtschlüssel beschaffen und befahl uns die Aufstellung in Marschkolonne zum Einmarsch.» 198«Gerissener Unterhändler» – der Begriff war geboren. Freiburg fiel wie eine reife Frucht oder genauer wie eine teigige Birne. Als die Franzosen am 2. März endlich vor Freiburg auftauchten, oblag es wiederum d’Affry, die Übergabe auszuhandeln. Er übernahm das hässliche Geschäft, das ihm nur schaden konnte. Aber das gesamte Patriziat hatte sich gedrückt, nur d’Affry sprang ein. So hob sein Biograf hervor: «Ihm wurde oft vorgeworfen, Freiburg unverteidigt übergeben und so der Berner Armee die linke Flanke geboten zu haben.»
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