Indem Thomas die ‘übernatürliche’ Gottesliebe im Anschluß sowohl an aristotelische als auch an biblische Argumentationsmuster als Freundschaft und Gemeinschaft des Menschen mit Gott versteht, kann er analog zu einer zwischenmenschlichen Freundschaft, die in sich Mißtrauen und Hoffnungslosigkeit gewissermaßen ‘per definitionem’ ausschließt, auch von der Gemeinschaft des Menschen mit Gott sagen, daß sie Glaube und Hoffnung notwendig voraussetzt: nämlich den Glauben, der eben diese Gemeinschaft des Menschen mit Gott glaubt, und die Hoffnung, in der die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft auch (bzw. gerade) in Zukunft für möglich gehalten wird. 224Indem Glaube, Hoffnung und Liebe sich wechselseitig implizieren und gemeinsam die Freundschaft des Menschen mit Gott ermöglichen, sind sie zugleich die Handlungsprinzipien, durch die der Mensch auf die Glückseligkeit ausgerichtet ist und sie erlangen kann. Wie die ‘naturhaft-erworbenen’ Tugenden zur Erlangung eines der Natur des Menschen entsprechenden Zieles befähigen, so befähigen die Theologischen Tugenden - und insgesamt alle eingegossenen Tugenden - zur Erlangung eines ‘höheren’ und ohne sie unerreichbaren Zieles. 225Insofern sind auch die Theologischen Tugenden bzw. alle ‘eingegossenen’ Tugenden noch nicht selbst die Glückseligkeit (die - wie gesagt - in der ‘Schau Gottes’ (»gloria«) besteht 226), doch machen sie der Gnade Gottes teilhaftig (»particeps divinae gratiae«) 227und lassen die Glückseligkeit bereits anfanghaft erleben. Da die Gnade gewissermaßen der Anfang der Glückseligkeit 228in diesem Leben ist und durch die ‘eingegossenen’ Tugenden im Menschen ankommt, ist in den ‘eingegossenen Tugenden’ die ‘auf Erden’ höchstmögliche Glückseligkeit verwirklicht: zuallererst in der übernatürlichen Gottesliebe, die durch die Liebeseinheit mit Gott zugleich eine Verbindung mit der Glückseligkeit 229ist; sodann in den beiden anderen Theologischen Tugenden, Glaube und Hoffnung, die den Menschen ebenfalls mit seinen Vermögen auf Gott und die Glückseligkeit - verglichen mit der »caritas« allerdings auf unvollkommenere Weise 230- ausrichten; und letztlich auch in den übrigen mit der Gottesliebe ‘eingegossenen moralischen Tugenden’, die menschliches Leben gewissermaßen in allen Vollzügen gelingen lassen und so auf ihre Weise auf die Glückseligkeit hinordnen. Worauf schon bei der Untersuchung der ‘natürlichen’ Tugenden hingewiesen wurde, das bestätigt sich auch bei den ‘eingegossenen’ Tugenden: Tugendhaftigkeit und Glückseligkeit implizieren sich wechselseitig. Im Unterschied zu den ‘natürlichen’ Tugenden haben die ‘eingegossenen’ Tugenden nicht nur ein unvergleichlich ‘ höheres ’ und - im wahrsten Sinn des Wortes - unfaßbares Ziel, sondern vor allem ein zukünftiges Ziel, auf das die ‘eingegossenen’ Tugenden ihrerseits aber schon so etwas wie einen Vorgeschmack zu geben vermögen. Doch unbeschadet ihrer Vorläufigkeit 231sind die ‘eingegossenen’ Tugenden die denkbar höchsten Lebensvollzüge ‘auf Erden’, die gewissermaßen das Ziel (der Glückseligkeit) schon in sich tragen. Weil sie von Gott ermöglichte Handlungsprinzipien sind, machen die ‘eingegossenen’ Tugenden noch weit mehr als die ‘naturhaft-erworbenen’ Tugenden den Menschen nicht nur in diesem oder jenem Vermögen, sondern gewissermaßen rundum ‘gut’. Sie sind deshalb auch für Thomas die eigentlichen Tugenden (»virtutes simpliciter«), von denen her sich der Vollsinn seines Tugendverständnisses erschließt und neben denen die rein natürlichen Tugenden nurmehr als uneigentliche Tugenden (»virtutes secundum quid«) erscheinen. 232
Daß Thomas sein Tugendverständnis gewissermaßen von Anfang an von dieser Höchstform der Tugend entwirft, wird schon in der allerersten Quästion des Tugendtraktates angedeutet, denn nur die ‘eingegossenen’ Tugenden erfüllen alle Bedingungen der von Thomas favorisierten (und auf Augustinus 233zurückgehenden) Tugenddefinition: ‘Eine Tugend ist eine gute ‘Qualität’ des menschlichen Geistes, durch die man ‘recht’ lebt und das ‘Schlechte’ meidet, und die Gott in uns ohne uns wirkt. 234Nur die Theologischen Tugenden mitsamt den eingegossenen moralischen Tugenden sind Tugenden im strengen Sinn, da nur sie den Menschen auf das ‘wahre’ und ‘letzte’ Ziel (»finis ultimus«) hinreichend ausrichten, dessen der Mensch - wie oben betont - in der Gnade ‘fähig’ (»capax«) ist. Und so sind mit den vollkommenen Tugenden diejenigen Wirkungen der Gnade angesprochen, durch die der Mensch (wieder) zum vollkommenen ‘Abbild Gottes’ auf Erden (»imago recreationis«) wird, indem er akthaft zu Gott unterwegs ist ; denn die Tugenden des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung vervollkommnen die menschliche Vernunft und den menschlichen Willen in der Weise, daß der Mensch tatsächlich, also nicht nur dem Vermögen nach, sondern akthaft zu Gott als dem Ziel menschlichen Lebens gekehrt ist. Es zeigt sich, daß sich die Vollendung des Menschen in thomanischer Perspektive gemäß und als Vollendung der menschlichen Binnenstruktur vollzieht .
Sind mit den ‘eingegossenen’ Tugenden diejenigen Handlungsprinzipien genannt, durch die der Mensch ‘schon jetzt’ auf die Glückseligkeit ausgerichtet ist , drängt sich jedoch die Frage auf, wie der Mensch eben diese ‘Wirkungen der Gnade Gottes’ erlangen kann: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit der Mensch der Gnade Gottes und ihrer Wirkungen in den Seelenvermögen teilhaftig wird? Diese Frage im Hinblick auf die thomanische Theologie der STh voranzutreiben und ein Stück weit einer Beantwortung zuzuführen, dazu will diese Arbeit ihren Beitrag leisten, wobei die weitere Untersuchung ihren Ausgang nehmen soll in dem Traktat der STh, von dem an erster Stelle Hinweise auf die Voraussetzungen für die Erlangung der Gnade erwartet werden können: im Gnaden- und Rechtfertigungstraktat (STh I-II 106-114).
1Vgl. L.-M. de Blignières, La dignite de I’homme image de Dieu, 199-220; B. Bujo, Moralautonomie und Normenfindung, 173-192; F. Dander, Gottes Bild und Gleichnis, 206-259; J.F. Hartel, Femina ut imago Dei; D.M. Ferrara, Imago Dei; L.-B. Geiger, L’homme, image de Dieu, 511-532; A. Hofmann, Die Gottebenbildlichkeit, 345-358; ders., Erschaffung und Urzustand des Menschen; ders., Zur Lehre von der Gottebenbildlichkeit, 292-327; R. Moretti, Con «l’uomo immagine di Dio», 187-198; T. Ortiz Ibarz, Imagen de Dios en la Creacion, 197-207; J. Pelikan, Imago Dei, 27-56; c.-J. Pinto de Oliviera, Image de Dieu, 401-436; A. Rohner, Thomas von Aquin, 260-291; L. Scheffczyk, Der Mensch als Bild Gottes; E. Schockenhoff, Bonum hominis, 85-95; Ch.-S. Shin, ‘Imago Dei’ und ‘Natura Hominis’, 49-115; R. Simon, Das Filioque bei Thomas von Aquin, 64-98; M. Szell, Facciamo l’uomo a nostra immagine, 221-232.
2Vgl. A. Hoffmann, Erschaffung und Urzustand des Menschen, 270.
3Vgl. ebd.
4»Quia, sicut Damascenus dicit, homo factus ad imaginem Dei dicitur, secundum quod per imaginem significatur intellectuale et arbitrio liberum et per se potestativum; postquam praedictum est de exemplari, scilicet de Deo, et de his quae processerunt ex divina potestate secundum eius voluntatem; restat ut consideremus de eius imagine, idest de homine, secundum quod et ipse est suorum operum principium, quasi Iiberum arbitrium habens et suorum operum potestatem.« STh I-II Prol. Vgl. Johannes Damascenus, De Fide Orth., Lib. II, cap. 12 (PG 94, 920).
5O.H. Pesch, Thomas von Aquin, 381f., weist mit mannigfachen Belegstellen auf die verbreitete intellektualistische oder rationalistische Deutung der thomanischen Gottebenbildlichkeitslehre hin und zeigfu daß sie in der Regel auf eine einseitige und isolierte Auswertung des Prologs der I-II aeder STh zurückzuführen ist.
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