Trotz der in den ersten vier Artikeln der qu. 18 vorherrschenden metaphysischen Analyse der Moralität trügt jedoch der Eindruck, daß moralische Erkenntnis aus der Erkenntnis des Wesens als vorgegebener Bestimmtheit abgeleitet werden könnte. 106Der nachfolgende Artikel (a. 5) macht deutlich: “Die moralische Ordnung“, in einer Formulierung W. Kluxens gesprochen 107, “findet zwar im Umkreis der Dinge statt“, doch ist die ontologische Analyse der Moralität als Reflexion 108auf das anzusehen, was ursprünglich durch das höchste Seelenvermögen des Menschen, im Vollzuge der Vernunft schon erkannt ist. “Die spezifisch praktische Erkenntnis gewinnt … das ‘Prinzip der Moralität’ in ihrem eigenen Vollzuge und ist nicht darauf angewiesen, aus einer nicht-praktischen Wesenseinsicht, die ihr vorausläge, ihre Gründung zu erwarten.” 109Bei Thomas führt kein Weg der direkten Ableitung von der Metaphysik zur Ethik. 110 Die menschliche Vernunft ist der Maßstab des moralischen Unterschiedes, d.h. Maßstab von Gut und Böse : Je nachdem, ob sich das Handeln nach dem ‘Maß’ der Vernunft (»secundum rationem«) oder gegen das ‘Vernünftige’ (»praeter rationem«) richtet, bestimmt sich dessen Gutheit bzw. Schlechtheit. 111Von der Vernunft als dem Prinzip menschlichen Handelns ausgehend (a. 5), werden die in den ersten vier Artikeln der qu. 18 genannten Faktoren der Handlung (sc. der Gegenstand, das Ziel und die Umstände der Handlung) für die moralische Bewertung bzw. Spezifikation nach und nach in die Überlegung einbezogen. Daß die vom Ziel her kommende Bestimmtheit der Handlung gegenüber derjenigen Bestimmtheit, die von den Umständen und vom faktischen Handlungsgegenstand ausgeht, die grundlegendere und maßgeblichere 112ist (a. 6-7), wird eingehend in qu. 19 untersucht: Über die Gutheit und Schlechtheit eines Aktes entscheidet in erster Linie das Ziel als das spezifische Objekt des Willens (a. 1-2), das die Vernunft in ihrer ‘regelnden’ und ‘maßstäblichen’ Funktion dem Willen vorgibt (a. 3-5). 113Und weil sich die Güte des Willens nach der Güte des ‘intendierten’ Zieles und somit nach der Güte der »intentio« bemißt (a. 7), ist der Wille in dem Maße gut, wie er von der Vernunft (in formaler Weise; »formaliter«) auf das ‘höchste Gut’ ausgerichtet wird (a. 9). Auf diese Weise, d.h. “im Wollen dessen, ‘was Gott will, daß der Mensch will’” 114, kann der menschliche Wille dem göttlichen Willen gleichförmig werden (a. 10).
Nun geht die Güte der »intentio« jedoch nicht einfach bruchlos auf die faktische Handlung über. Schon der noch nicht nach außen getretene ‘innere Akt’ kann sich von der Güte der »intentio« unterscheiden, wenn er etwa der Intensität nach schwächer wäre oder die Mittel zur Erreichung des Zieles diesem nicht proportioniert wären. In seiner Abhängigkeit 115vom ‘inneren Akt’ kann folglich aus den gleichen Gründen und zudem aufgrund möglicher (äußerer) Widerstände und Hindernisse auch der ‘äußere Akt’ an Güte weit geringer sein als die »intentio« (a. 8). Wenn aber somit sowohl der ‘innere’ als auch der ‘äußere Akt’ von der Güte der »intentio« abweichen können, dann ist daraus zu folgern, daß sich die Gutheit des ‘äußeren Aktes’ nach der ‘gemeinsamen Güte’ (»integritas bonorum«) aller beteiligten Einzelfaktoren richtet (qu. 20) 116und sich somit, wie oben erwähnt, sowohl nach dem intendierten Ziel als auch nach dem Gegenstand und den Umständen 117einer Handlung bestimmt.
Mit der Nennung aller für die Gutheit bzw. Schlechtheit einer Handlung maßgeblichen Faktoren kann Thomas in qu. 21 auf die Konsequenzen und Folgen menschlichen Handelns eingehen. Je nachdem, ob menschliches Handeln der Vernunftordnung (als der spezifisch menschlichen Teilhabe an dem Ewigen Gesetz Gottes) entspricht oder nicht, hat es den Charakter der ‘Rechtheit’ (»rectitudo«) oder der ‘Sünde’ (»peccatum«) 118(a. 1); und insofern es willentlich (»voluntarius«) und dem Menschen zurechenbar ist, trägt es den Charakter des ‘Lobenswerten’ oder des ‘Schuldhaften’ 119(a. 2).
Von wirklichen Konsequenzen sündhaften-schuldhaften bzw. rechten-lobenswerten Handelns im Sinne einer ‘Vergeltung’ (»retributio«) spricht Thomas im Blick auf zwei Rechtsordnungen. Als Teil der Gesellschaft steht der Mensch auch in der Rechtsordnung dieser Gesellschaft, und so kann sein Handeln ‘verdienstlich’ oder ‘mißverdienstlich’ sein und eine entsprechende ‘Vergeltung’ zur Folge haben (a. 3). 120Ebenso ist das Handeln des Menschen gegenüber Gott ‘verdienstlich’ oder ‘mißverdienstlich’. Weil nämlich menschliches Handeln entweder dem ‘letzten Ziel’ gemäß ist oder nicht, kommt Gott mit der Regierung des Weltalls auch die Vergeltung menschlichen Tuns zu (a. 4). 121
Wenn aber mit der göttlichen Vergeltung im letzten nichts anderes als die Teilnahme des Menschen an der göttlichen Glückseligkeit (in der »visio beatifica«) bzw. das Verfehlen des ‘höchsten Zieles’ gemeint sein kann, ist als weiteres Zwischenergebnis dieser nach den Voraussetzungen für die Erlangung der Glückseligkeit fragenden Studie zwar einerseits festzuhalten, daß die Erlangung der vollkommenen Glückseligkeit als notwendige Bedingung ein vernunftgeleitetes, in formaler Weise auf das Letztziel ausgerichtetes ‘gutes Handeln’ des Menschen erfordert. Die vielen Hinweise, in denen ein über Gottes allgemeines Wirken in der Welt hinausgehendes spezielleres Wirken in der Gnade zur Erlangung der Glückseligkeit betont wird, machen andererseits ebenso deutlich, daß ‘menschliche Freiheit’ allein zur Erlangung der Glückseligkeit nicht ausreicht.
Noch immer sind die Fragen nicht zu entscheiden, was Thomas unter der ‘Gnade Gottes’ versteht, ob und wie der Mensch ihrer teilhaft werden kann, und wie sich ‘menschliche Freiheit’ und ‘Gnade Gottes’ zueinander verhalten. Wird die Bedeutung des in den Eingangsquästionen der II aPars in seiner Struktur herausgearbeiteten, vernunftgeleiteten und selbstbestimmten Handelns des Menschen etwa unter dem Primat der Gnade Gottes nachträglich doch wieder eingeschränkt und marginalisiert? Die Beantwortung dieser Fragen macht zunächst noch weitere Überlegungen erforderlich.
b) Die Rolle der Affekte für das menschliche Handeln
Menschliches Handeln ist, wie in den vorausgegangenen Abschnitten erwähnt, durch ‘Vernunftbestimmtheit und Willentlichkeit’ ausgezeichnet; mittels seiner höchsten Seelenvermögen, Vernunft und Wille, verwirklicht der Mensch sein ‘Gut’ (»bonum hominis«). 122Bislang ist auf die Bedeutung, die dem ‘niederen-sinnlichen Strebevermögen’ (»appetitus inferior; appetitus sensitivus«) bei dem Aufbau der menschlichen Handlung zukommt, nur am Rande eingegangen worden. 123Weit ausführlicher als noch im Frühwerk 124wendet sich Thomas der Frage nach der Bedeutung des sinnlichen Strebevermögens in der insgesamt 26 Quästionen umfassenden Lehre von den menschlichen Affekten bzw. Leidenschaften zu (qu. 22-48). 125In dieser sich durch einen ‘Reichtum an phänomenologischer Beobachtung’ 126auszeichnenden Analyse des psychischen Affektpotentials macht Thomas deutlich: Auch und gerade menschliches Handeln gründet in den autonomen bzw. irrationalen psychischen Antrieben der Liebe (»amor«) und des Hasses (»odium«), der Sehnsucht (»desiderium«) und der Flucht (»fuga«), der Freude (»delectatio«) und der Traurigkeit (»tristitia«), der Hoffnung (»spes«) und der Verzweiflung (»desperatio«), der Furcht (»timor«) und der Kühnheit (»audacia«) und des Zornes (»ira«). Diese elf den Menschen mit den Tieren gemeinsamen 127, in sich sittlich neutralen 128Affekte nennt Thomas »passiones«. Der Begriff »passio« legt vom Wortsinn her die durch ein ‘Erleiden’ (»pati«) von etwas ‘Schlechtem’ hervorgerufene körperlich-seelische Veränderung (»transmutatio corporalis«) nahe. 129Doch bezeichnet der Begriff »passio« nach Thomas jedwede Gemütsbewegung, also auch diejenigen Affekte, die mit vornehmlich positiven Konnotationen belegt sind, wie etwa die Freude oder die Liebe. Da die »passiones« gewissermaßen innerpsychische Reaktionen auf die (‘äußere’) Gegenstandswelt (wozu natürlich auch ‘ideale’ Gegenstände bzw. Güter gehören) sind, unterscheidet Thomas zwei Vermögen der »sensualitas«: den »appetitus concupiscibilis« und den »appetitus irascibilis«. Dem »appetitus concupiscibilis« gehören diejenigen Affekte an, die sich direkt auf den sie evozierenden Gegenstand beziehen, wie die Liebe (»amor«), die Sehnsucht (»desiderium«), die Freude (»delectatio«) einerseits und der Hass (»odium«), die Flucht (»fuga«) und die Traurigkeit (»tristitia«) andererseits. Demgegenüber sind dem »appetitus irascibilis« diejenigen »passiones« zugehörig, die sich auf ein schwer erreichbares ‘Gut’ bzw. auf ein nicht leicht vermeidbares ‘Übel’ beziehen, wie die Hoffnung (»spes«), die Verzweiflung (»desperatio«), die Furcht (»timor«), die Kühnheit (»audacia«) und der Zorn (»ira«). 130Die letztgenannten komplexeren, auf die Überwindung von Widerständen abzielenden Affekte des ‘irasziblen’ Strebevermögens haben hinsichtlich der ‘konkupisziblen’ »passiones« eine Schutz- bzw. Abwehrfunktion. 131Von diesen nehmen die irasziblen Affekte ihren Ausgang, und in sie münden sie zurück 132
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