Wenn man die Entstehung der einen »passio« aus der anderen nachzeichnen will bzw. - in scholastischer Terminologie gesprochen - den »ordo consecutionis« oder die »via generationis« der einzelnen Affekte nach-denkt, muß von der Liebe (»amor«) ausgegangen werden. 133Denn alle Affekte haben ihren Ursprung in der Liebe, die darum die erste »passio« des konkupisziblen Strebevermögens genannt wird. Aus der Liebe, die Thomas als affektive Einigung 134, als das Gefühl einer Entsprechung (»proportio«) bzw. der Hingeordnetheit (»aptitudo«) auf ein diese Liebe provozierendes ‘Gut’ oder gar als ‘Wohlgefallen’ (»complacentia«) an diesem beschreiben kann, entspringt die Sehnsucht (»desiderium«), die ihrerseits, sobald das geliebte ‘Gut’ erreicht ist, in die Freude (»delectatio«) mündet. 135Erweist sich aber ein ‘geliebtes Gut’ als schwer erreichbar oder zukünftig, wird es zum Objekt der Hoffnung (bzw., falls unerreichbar, zum Objekt der Verzweiflung; »desperatio«). Da in der Hoffnung (»spes«) die Erlangung eines (schwer erreichbaren) ‘hohen Gutes’ (»bonum arduum«) für möglich gehalten wird, ist sie ihrerseits die erste »passio« des ‘irasziblen’ Strebevermögens. 136Wie die Hoffnung münden auch die anderen ‘irasziblen’ Affekte in die Freude bzw. in die Traurigkeit. 137
Wie aber verhält sich das psychische Affektpotential zu der zuvor 138betonten Vernunftbestimmtheit menschlichen Handelns? Thomas ist zwar der Auffassung, daß Affekte sich verselbständigen, die Vernunft und Willen beeinträchtigen, ja sogar gänzlich ausschalten können, so daß eine Handlung ganz oder teilweise ‘unwillentlich’ werden kann 139, doch sieht er die »passiones« grundsätzlich auf die Vernunft hingeordnet. 140“Sie sind naturale Güter, die als dynamisierende Potenzen dem Menschen mitgegeben sind und durch seine freie Verfügung der Entfaltung äußersten menschlichen Seinkönnens dienstbar gemacht werden können und sollen.” 141Obgleich sie ‘an sich’ sittlich neutral sind, haben sie dennoch dadurch sittliche Relevanz, daß sie der Vernunft unterstehen bzw. von ihr gelenkt werden können. 142So heißen Affekte ‘gut’, wenn sie vernunftgemäß sind (»secundum rationem«), und ‘schlecht’, wenn sie der Vernunft entgegenstehen (»praeter rationem«). 143Es zeigt sich, daß auch in der Affekte-Lehre die Vorrangstellung der Vernunft betont wird, indem auf die nur dem Menschen gegebene Möglichkeit der Durchdringung der Affekte durch die Vernunft hingewiesen wird. Doch bedeutet das umgekehrt nicht, daß die thomanische Lehre von den menschlichen Leidenschaften einseitig rationalistisch oder leibfeindlich zu interpretieren wäre. Thomas ist zwar der Auffassung, daß der Mensch um so vollkommener ist, je mehr sich sein höchstes, ihn auszeichnendes ‘Gut’, die Vernunft, in den Antriebskräften menschlichen Handelns auswirkt. 144Ebenso sehr wird jedoch betont, daß in einer starken Leidenschaftlichkeit ein Zeichen für die Stärke des menschlichen Willens zu sehen ist 145bzw. daß der Mangel an Leidenschaftlichkeit (»vitium insensibilitatis« 146) sogar eine Sünde sein kann. So wird die Bedeutung der psychischen Antriebskräfte nicht nivelliert, wenn Thomas die Vollendung der menschlichen Seelenkräfte in einem harmonischen Ineinandergreifen von niederem und höherem Seelenvermögen verwirklicht sieht. 147
Das Ineinandergreifen von niederem und höherem Seelenvermögen bedarf jedoch nach Thomas noch einer weiteren ‘anthropologischen Vermittlung’: Da die Affekte der Vernunft gehorchen bzw. von ihr geleitet werden können, sind sie prinzipiell auch für eine bestimmte Disponierung offen. 148Auf die Art und Weise, wie die am Aufbau des menschlichen Handelns beteiligten Seelenpotenzen (die Affekte, Vernunft und Wille) disponiert bzw. vollendet werden können, greift Thomas vor, indem er neben Vernunft und Wille auch die Affekte als Ansatzpunkte für ‘Tugenden’ bzw. als deren ‘Sitz’ oder ‘Träger’ (»subiectum«) bezeichnet. 149Mit dem somit schon in der Affekte-Lehre eingeführten ‘Tugend-Begriff’ und dem diesem vorausliegenden »habitus«-Begriff gelangt die Analyse der thomanischen Ethik zu ihren Schlüsselbegriffen, die im Blick- und Mittelpunkt der Untersuchung der I-II ae(qu. 49-71) stehen und von da an die Argumentation der gesamten Secunda Pars bestimmen.
1.3. Habituelle Dispositionen, ‘natürliche’ und ‘eingegossene’ Tugenden und ihre Bedeutung für die Erlangung der Glückseligkeit
a) »Habitus« als spezifisch menschliche Tätigkeitsvorprägungen
Der von den meisten Kommentaren 150gewählte Zugang zu dem der thomanischen Tugend- und Gnadenlehre zugrundeliegenden »habitus«-Begriff scheint zumeist nur um den Preis ‘hoher begrifflicher Abstraktion’ möglich. Gerade dadurch aber, d.h. durch einen zu frühen Rekurs auf die Kategorientafel des Aristoteles, wird m.E. das Verständnis in der heutigen Zeit eher erschwert als erleichert. Dies ist um so mehr zu bedauern, weil sich eine Hinführung 151zu dem von Thomas Gemeinten eigentlich ohne größere Umstände in direktem Anschluß an die zuvor in dieser Arbeit skizzierten Leitsätze der thomanischen Ethik ergibt: Der Mensch, so ist in den unterschiedlichsten Zusammenhängen wiederholt gesagt worden, verhält sich durch seine Seelenvermögen (»potentiae animae«), d.h. durch Vernunft, Wille und durch das psychische Triebpotential, zu seiner Um- und Mit-Welt. Indem der Mensch sich mit seiner Vernunft, seinem Willen und seinen Affekten (in Akten, bei denen diese Seelenvermögen zusammenwirken ) auf seine Umwelt bezieht, ergeben sich durch den bloßen und unvermeidbaren Gebrauch (oder Nicht-Gebrauch) notwendig (An-) Gewohnheiten als Reflex und Ergebnis der jeweiligen Tätigkeiten. Und genau diese unvermeidbaren (An-) Gewöhnungen und Gewohnheiten bezeichnet Thomas als »habitus« und versteht sie als Handlungsdispositionen bzw. Tätigkeitsvorprägungen 152, in denen sich die Weise der Aktuierung der oben genannten Vermögen (Vernunft, Wille, Affekte) in Bezug auf ein bestimmtes Objekt oder Objektfeld verfestigt hat. Insofern die »habitus« einem bestimmten, konstanten Objektfeld (»causa immobilis«) entsprechen, sind sie durch eine gewisse Beständigkeit 153, Konstanz und Dauerhaftigkeit 154ausgezeichnet und garantieren eine grundsätzliche Befähigung zu einer prompten 155Aktuierung der entsprechenden Seelenvermögen.
Im Hinblick auf die nachfolgenden Kapitel kann nicht entschieden genug darauf hingewiesen werden, daß Thomas als »habitus« nur die spezifisch menschlichen Handlungsvorprägungen bezeichnet, also weder den dressierten Trieb bzw. Instinkt noch eine körperliche Disposition (wie z.B. Gesundheit, Schönheit, etc.), die es auch bei Tieren gibt 156, sondern die durch die Tätigkeit von Vernunft und Wille - gewissermaßen freiwillig und selbstbestimmt - zustandegekommene Handlungsdisposition eines der genannten Vermögen. 157»Habitus« können den Verstand, den Willen und die Affekte auf unterschiedliche und sogar in entgegengesetzter Weise bestimmen 158und sind als Tätigkeitsvorprägungen bezüglich eines konstanten Objektfeldes somit auf ein ihnen entsprechendes ‘ Tätigwerden ’, auf »operationes«, bezogen. 159Zur Entstehung bzw. Ausprägung eines »habitus« bedarf es allerdings mehr als nur einer einfachen, einzelnen Aktuierung eines Seelenvermögens. Vielmehr ist er das zu einem (habituellen) Zustand ‘geronnene’ Ergebnis vieler einzelner, gleichförmiger und gerichteter Einzelakte. 160
Die bisherigen Überlegungen zum thomanischen »habitus«-Begriff können wie folgt Satz zusammengefaßt werden: Ein »habitus« ist eine nur den Menschen aufgrund seines Verstandes- und Willensvermögens auszeichnende und durch vielfältige, gleichförmige Einzelakte angewöhnte Disposition eines Vermögens, wodurch dieses Vermögen gegenüber einem bestimmten Objektfeld zu konstanten, gleichförmigen Tätigkeiten befähigt wird .
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