Wie Eugen Biser beklagt auch Brigitte Fuchs die verloren gegangene biblische Anthropologie einer Leib-Seele-Einheit und sieht in der gegenseitigen Entflechtung von Medizin und Theologie keine wesensmäßige Ergänzung beider Sektoren. Es sei ein Graben zwischen den Kompetenzbereichen der Kirche – für das Seelenheil – und der Medizin – für die körperliche Heilung – entstanden, in den der leidende Mensch falle, weil er mit der Frage, wie seine Krankheit in seinen Glaubens- und Lebensweg zu integrieren sei, allein gelassen werde. Eine kopflastig gewordene Theologie könne dem leidenden Menschen nicht mehr geben, was ihm eine naturwissenschaftliche Medizin schuldig bleibe. Auf diesem Erfahrungshintergrund entwickelte Brigitte Fuchs auf der Grundlage des christlichen Glaubens ein therapeutisches Meditationsprogramm, das den religiösen Glauben der Patienten für ihren Heilungsprozess fruchtbar machen soll. 19
Für den Mediziner Herbert Benson spielen der Glaube und die Erwartungshaltung eine eminent wichtige Rolle für einen jeden Heilungsprozess. Er fordert dazu auf, an das Gute zu glauben oder an etwas, das besser ist als alles, was Menschen sich vorstellen können, und bezeichnet einen solchen Glauben als eine ausgezeichnete Medizin für uns Sterbliche. 20Gesundheit und Wohlbefinden hält Benson für optimierbar im richtigen Zusammenspiel der drei Komponenten Medikamente, Operationen (und andere Eingriffe) und Selbstfürsorge. Diese Komponenten bezeichnet er als den „dreibeinigen Stuhl“ und beklagt zugleich, dass in der heutigen medizinischen Praxis dieser Stuhl nicht im Gleichgewicht ist, weil wir viel zu wenig auf die Selbstfürsorge und viel zu stark auf Medikamente und medizinische Eingriffe setzen. 21Eine unersetzliche Rolle innerhalb der Selbstfürsorge spielt für Herbert Benson das von ihm so genannte „erinnerte Wohlbefinden“, das er in drei Arten unterteilt: Glaube und Erwartungshaltung auf Seiten des Patienten; Glaube und Erwartungshaltung auf Seiten des behandelnden Arztes; Glaube und Erwartungshaltung, die durch die Partnerschaft zwischen Patient und Arzt entstehen. 22
Nach den Beziehungen von Medizin und Spiritualität im Blick darauf, was den Menschen heil macht, fragt der Arzt Santiago Ewig und stellt zunächst nüchtern fest: „Spiritualität spielt in unserem ärztlichen Handeln wenn überhaupt nur noch eine hintergründige Rolle in der Praxis des einzelnen Arztes; in der Medizin als Betrieb hat sie ausgedient.“ 23Dabei sei Spiritualität nicht der Medizin unterlegen, da sich beide auf sehr unterschiedlichen Ebenen bewegen. Während die Sorge der Medizin dem Körper gehöre, so gelte die der Spiritualität der inneren Gesundung des existenziell Kranken und greife damit weit über die körperliche Verfassung aus auf die absolute Zukunft des Kranken. Wenn auch die Bedingungen für eine gelebte Spiritualität in der Medizin heute ohne Frage ausgesprochen ungünstig seien, sieht Ewig gerade in der Spiritualität eine Angelegenheit der Graswurzelrevolution, die im Kleinen stattfinde und sich außerhalb des Gemachten, der Technik, ereignen müsse. Die Kirchen seien sich gar nicht bewusst, was für ein Potential der Verkündigung offenstehe und wie richtungweisend eine Auffassung von Medizin, die Spiritualität zulässt und sich von ihr umgreifen lasse, in unserer Gesellschaft wirken könne. 24
Elisabeth Hofstätter verweist darauf, dass Religion als Privatangelegenheit im naturwissenschaftlich orientierten Krankenhausalltag marginalisiert worden sei und man durch ein Pro-forma-Angebot eines Seelsorgers meine, die spirituellen Bedürfnisse der Patienten berücksichtigt zu haben. Ob in einem naturwissenschaftlich orientierten Krankenhaus die Patienten ihre spirituellen Bedürfnisse überhaupt zu äußern wagten, sei die eine Frage; eine andere die nach den spirituellen Bedürfnissen konfessionsloser Patienten. Eine Zusammenarbeit von Therapeuten und Seelsorgern in städtischen Krankenhäusern sieht Hofstätter wenig reflektiert und organisiert und eher in einem Konkurrenzverhältnis zueinander als in einem förderlichen Miteinander, das dem Wohl und der Heilung des Patienten dienen würde. 25
Für den Mediziner und Theologen Roland W. Moser ist es unstrittig, dass die heutige moderne, technisierte Medizin auf den „engen interdisziplinären Dialog mit den Geisteswissenschaften, der philosophischen Wissenschaft, der Theologie und der Ethik angewiesen“ 26ist. So wie die Theologie heute neuere Einsichten über den Menschen von der Medizin und Biologie aufnehme und sie theologisch integriere, so müsse umgekehrt heute auch die Medizin dazu bereit sein, neuere Einsichten über den Menschen von den Geisteswissenschaften, der Theologie, der Philosophie, der Ethik, der Soziologie und der Politik aufnehmen und diese medizinisch integrieren. Obwohl der Begriff „Interdisziplinarität“ zu einem Schlagwort geworden sei, spricht Moser vom Eindruck, dass bei der Suche nach interdisziplinärer Zusammenarbeit unnötige Widerstände aufgebaut werden gegen das, was weiterhelfen könnte, und er fragt, ob sich hinter diesen Widerständen Angst oder Vor-Urteile verbergen, die dieses notwendige interdisziplinäre Denken so schwierig machen. 27
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass bereits im Jahr 2000 in den USA die Frage auftauchte, ob Ärzte religiöse Begleitungen für Todkranke verschreiben sollten. Die Frage wurde dort mit einem wachsenden Interesse der Öffentlichkeit und der Ärzte an Religion im medizinischen Bereich begründet. In Deutschland schlägt sich dies in einem neuen Fachgebiet nieder. Seit 2011 gibt es an der Ludwig-Maximilians-Universität München einen eigenen Lehrstuhl für „spiritual care“, also für spirituelle Anteilnahme, Fürsorge, Pflege. Die beiden Lehrstuhlinhaber (Eckhard Frick, kath.; Traugott Roser, ev.) schulen Mediziner und Angehörige anderer Gesundheitsberufe. 28
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Gesundheit, Heil und Heilung in ihrer Bezogenheit aufeinander interpretiert werden und somit Medizin und Glaube in direkte Beziehung kommen.
Die Analyse der Erwartungsstruktur an Medizin und Glaube soll aber helfen, die Ansätze seitens medizinischer und theologischer Wissenschaft aufgrund einer empirischen Untersuchung in weitere fruchtbare Beziehung zu bringen.
1 „Die wissenschaftliche Entwicklung in der Medizin hat ein Anspruchsdenken gefördert, das regelmäßig nicht erfüllt werden kann.“ B. Ballhausen , Das arztrechtliche System als Grenze der arbeitsteiligen Medizin. Zugleich ein Beitrag zur privatrechtsdogmatischen Integration des Arztrechts (Göttinger Schriften zum Medizinrecht 14), Göttingen 2013, 10.
2 Zit. nach http://www.alternative-gesundheit.de/gesundheit-ist-das-hoechste-gut-des-menschen.html(abgerufen am 31.10.2015).
3 Vgl. F. Unger , Paradigma der Medizin im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, 41.
4 Kristall Sauna-Wellnesspark mit Soletherme, Köstritzer Straße 16, 07639 Bad Klosterlausnitz.
5 Toskana-Therme, Wunderwaldstraße 2a, 99518 Bad Sulza.
6 Vgl. Toskanaworld GmbH (Hg.), Flyer „ toskanaworld.net, glück und gesundheit.“, Bad Sulza 2011.
7 M. Lütz , Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den FitnessKult, München 2002, 18.
8 Vgl. M. Schweiger , Medizin. Glaube, Spekulation oder Naturwissenschaft? Gibt es zur Schulmedizin eine Alternative?, München 22005, 148.
9 Hier zitiert nach M. Schlackl , Was ist Wellness?, in: „geist.voll“ 4/2006, 4–8: 5.
10 Zum Begriff vgl. z. B. Gabriel, K. , Gesundheit als Ersatzreligion. Empirische Beobachtungen und theoretische Reflexionen, in: Hoff, G.-M. / Klein, C. / Volkenandt, M. (Hg.), Zwischen Ersatzreligion und neuen Heilserwartungen. Umdeutungen von Gesundheit und Krankheit (Grenzfragen 33), Freiburg/Br. 2010, 25–43.
11 Vgl. L. Honnefelder , Gesundheit – unser höchstes Gut? Anthropologische und ethische Überlegungen, in: Hoff, G.-M. / Klein, C. / Volkenandt, M. (Hg.), Zwischen Ersatzreligion und neuen Heilserwartungen, Freiburg/Br. 2010, 111–127: 111f.
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