Also: Nicht die Realität des Mangels, sondern die Hoffung auf Fülle sollte Theologie als den Ursprung ihrer Frage nach dem, was fehlt, erfahren und vermitteln können.
Die theologische Frage „was fehlt?“ kann wahrscheinlich daher nur derjenige stellen, der, wie zum Beispiel Teresa von Ávila 13, auch ahnt, was allein genügt. Und darin liegt wohl die singuläre Qualität dieser Frage. Ihre Pointe liegt eigentlich darin, dass sie nicht wissen will, was noch fehlt, sondern was im Grunde immer schon zu viel oder überflüssig war.
Die vorgelegten Betrachtungen, wie ich sagte, verstehen sich als Anregung zum Nachdenken über die Frage „was fehlt?“, weil von der Vermutung ausgegangen wird, dass unter den gegebenen sozialpolitischen und kulturellen Bedingungen einer mitteleuropäischen kapitalistischen „spätmodernen“ Gesellschaft wissenschaftliche Theologie sich erst vergewissern sollte, ob sie noch für die besondere, genauer: prophetische Qualität der Frage „was fehlt?“ sensibel genug ist. Das wäre meines Erachtens die Bedingung dafür, dass sie die Identifizierung von „Leerstellen“ im eigenen Tun nicht bloß mit der Aufgabe der Erweiterung des bestehenden „Lehr- und Forschungsplans“ mit neuen Themen und Problemen verwechsele, sondern darin die Herausforderung erkenne, die Grundlagen, auf denen sie steht, zu überprüfen und im interreligiösen wie im interkulturellen Gespräch möglicherweise eine sapientiale Neubegründung zu wagen.
Und in diesem Sinne darf ich doch meinen, dass die Besinnung auf den Sinn der Frage „was fehlt?“ doch der Anfang der im Symposium gestellten Aufgabe sein kann, wie ich schon sagte.
Andreu, A., Sobre revelaciones religiosas y filosofía, Valencia 2007.
Bammé, A., Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt. Zäsuren abendländischer Epistemologie, Velbrück 2011.
Böhme, G., Alternativen der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1980.
Espín, O.O., Idol & Grace. On Traditioning and Subversive Hope, New York 2013.
Estermann, J., Zivilisationskrise und das Gute Leben. Eine philosophische Kritik des Kapitalistischen Modells aufgrund des andinen Allin Kawasay/Suma Qamaña, in: Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie 63 (2013), 19-48.
Fornet-Betancourt, R., Justicia, restitución, convivencia. Desafíos de la filosofía intercultural en América Latina, Aachen 2014.
- u.a. (Hg.), Auf dem Weg zu einer gerechteren Universalität. Philosophische Grundlagen und politische Perspektiven, Aachen 2013.
- (Hg.), Begegnung der Wissenskulturen im Nord-Süd-Dialog, Frankfurt a.M. 2008.
Gutiérrez, G., Teología de la liberación. Perspectivas, Lima 1971.
Heidegger, M., Leitgedanken zur Entstehung der Metaphysik, der neuzeitlichen Wissenschaft und der modernen Technik, Gesamtausgabe, Bd. 76, Frankfurt a.M. 2009.
- Wissenschaft und Besinnung, Gesamtausgabe, Bd. 7: Vorträge und Aufsätze, Frankfurt a.M. 2000.
- Die Zeit des Weltbildes, Gesamtausgabe, Bd. 5: Holzwege, Frankfurt a.M. 1977.
Hübner, K., Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg i.Br. u.a. 1978.
Kosík, K., Dialektik des Konkreten, Frankfurt a.M. 1967.
Lukács, G., Geschichte und Klassenkampf, Neuwied u.a. 1971.
Marx, K., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bde. 23-25, Berlin 1971.
Meyer-Abich, K.M. (Hg.), Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens. Ganzheitliches Denken in Wissenschaft und Wirtschaft, München 1997.
Olmedo, A.M., El aro y la trama. Episteme, modernidad y pueblo, Santiago de Chile 2006.
Ortega y Gasset, J., Meditaciones del Quijote, Obras Completas, Bd. 1, Madrid 1983.
Plato, Das Gastmahl, Werke, Bd. 3, Darmstadt 1974.
Reder, M./Schmidt, J. (Hg.), Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 2008.
Teresa von Ávila, Gott allein genügt. Worte geistlichen Lebens, Kevelaer 2007.
Weber, M., Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988.
Weizsäcker, C.F. von, Die Einheit der Natur, München 1972.
1Siehe Programm des Symposiums.
2Vgl. Estermann, Zivilisationskrise.
3Für einen Überlick über die neuere Diskussion um den Begriff „Tradition“ vgl. Espín, Idol & Grace; für eine ausführlichere Darstellung des oben angesprochenen Aspektes vgl. das Kapitel „Sobre el concepto de tradición desde la perspectiva de la filosofía intercultural“ in Fornet-Betancourt, Justicia, 25-45.
4Vgl. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, insbesondere 77ff.; vgl. auch Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, 37-65; und Heidegger, Leitgedanken.
5Vgl. Weber, »Objektivität«, insbesondere 170ff.; vgl. ferner Bammé, Homo occidentalis.
6Hier wird nicht nur an „außereuropäische“ Wissenstraditionen gedacht, da auch in Europa Alternativen zu der vorherrschend werdenden Linie entwickelt wurden. Vgl. u.v.a. Andreu, Sobre revelaciones; Böhme, Alternativen; Hübner, Kritik; Meyer-Abich (Hg.), Baum; von Weizsäcker, Einheit; vgl. zudem aber auch Fornet-Betancourt (Hg.), Begegnung.
7Vgl. Olmedo, El aro y la trama.
8Vgl. Fornet-Betancourt u.a. (Hg.), Auf dem Weg.
9Vgl. Plato, Gastmahl, insbesondere 202e; vgl. auch Ortega y Gasset, Meditaciones, insbesondere 311ff.
10Vgl. Gutiérrez, Teología.
11Vgl. dazu u.a.: Marx, Kapital; vgl. auch Lukács, Geschichte; vgl. zudem Kosík, Dialektik.
12Vgl. Reder/Schmidt (Hg.), Bewusstsein, insbesondere 30ff.
13Vgl. Teresa von Ávila, Gott.
Was fehlt?
Leer- und Lehrstellen der Theologie in und für spätmoderne Zeiten
Philosophisch-theologische Anmerkungen aus der Beratungsperspektive
Ferdinand Rohrhirsch, Eichstätt/Esslingen am Neckar
1.Zurichtung der Frage durch Rahmensetzung
‚Die Statements können auch essayistisch, experimentell, gewagt angelegt sein‘ – so die Formulierung von Rainer Bucher in einer E-Mail an die Teilnehmer des Symposions.
Obgleich „gewagt“ und „experimentell“ nur in einem sehr geringen Maße mein Naturell beschreiben, war die Formulierung äußerst hilfreich in Hinsicht auf meine Beitragsausrichtung.
Ich habe aus ihr die Ermutigung destilliert, die Symposionsfrage von Form-, Formulierungs- und Erwartungszwängen zu befreien, um sie so aus ihrer, für mich riesenhaft, beinahe anmaßenden Dimension herauszuholen. Ich möchte also auf die Symposionsfrage aus einer deutlich tiefer gelegten – biographisch-beruflichen – Perspektive und Warte einen für mich verantwortbaren Antwortversuch vorlegen.
„Etwas fehlt“ – mit diesen Worten ist ein Text überschrieben, der ein Gespräch von Ernst Bloch und Theodor W. Adorno dokumentiert, das von Glück und Utopie handelt. „Etwas fehlt“, dieser Satz, den Bloch von Brecht übernimmt, verliert auch dort nichts von seiner Bedeutsamkeit, wo es, vermeintlich weit entfernt von Glück und Utopie, um Alltägliches geht. Um einen Alltag, in dem vorgeschützte Sachzwänge häufig zu Handlungsimperativen führen, in deren Schlepptau dann regelmäßig die Vokabeln „unumkehrbar“ und/oder „alternativlos“ zu finden sind. Das gilt nicht nur im Zusammenhang von Bahnhofsneubauten im Südwesten Deutschlands.
Dass im Alternativlosen etwas fehlt, das ist unverkennbar – es ist die Alternative. Wie die zu denken ist, oder was da fehlt, das ist – zugegeben – nicht immer unmittelbar offenkundig. „Etwas fehlt.“ Was das ist, was da fehlt, weiß man nicht immer. Es darf nach Bloch auch „nicht ‚ausgespinselt‘ werden“ 1. Auch das Symposionsthema setzt voraus, dass etwas fehlt, und lädt ein, genauer zu fragen bzw. darüber nachzudenken, was es ist, das da fehlt.
Читать дальше