Es wird sich in diesem Kapitel zeigen, dass der Mensch über Eigenschaften verfügt, die sonst nicht in der Natur vorkommen, und dass es sehr künstlich ist, sie in eine rein horizontale Weltauffassung einzuebnen. Glaubt denn irgendein Darwinist im Ernst, dass Bakterien und Menschen auf derselben Stufe stehen? Der Biologe glaubt so etwas nur, solange er sich im Laboratorium befindet. Tritt er in die Welt hinaus, dann denkt er hierarchisch, wie jeder andere Mensch auch. Man könnte also sagen : Hier ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Lebenswelt ungeklärt. Natürlich werden wir im Rahmen einer reduktionistisch vorgehenden Laborwissenschaft keine Werturteile zulassen. Wir werden die reduktionistisch vorgehende Biologie nicht als solche kritisieren, sondern nur den materialistisch-weltanschaulichen Rahmen, innerhalb dessen sie so gerne gesehen wird. Wir kritisieren also die Biologie nicht als solche, denn nur um den Preis der methodologischen Reduktion ist sie eine exakte, intersubjektiv kontrollierbare Wissenschaft. Aber als Menschen können wir nicht umhin, die Tatsache zu ignorieren, dass es eine echte Höherentwicklung gegeben hat und dass damit ein Wertezuwachs verbunden war. Niemand hält sich für eine Qualle oder einen Wurm, geschweige denn für ein Bakterium.
Der bekannte Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat sich in seinem Buch „Zur Naturgeschichte der Aggression“ die Sache so zurechtgelegt, dass er ein irrationales Wertempfinden von der Objektivität der Wissenschaft unterscheidet. Er sagt: „Wer da als Naturforscher um jeden Preis ‚objektiv‘ bleiben und sich dem Zwange des ‚nur‘ Subjektiven um jeden Preis entziehen will, der versuche einmal – natürlich nur im Experiment des Denkens und der Vorstellung – hintereinander eine Salatpflanze, eine Fliege, einen Frosch, ein Meerschweinchen, eine Katze, einen Hund und schließlich einen Schimpansen vom Leben zum Tode zu befördern.“ Es ist offenkundig, dass uns diese Tötungen immer schwerer fallen. Es gibt also ein qualitatives Wertempfinden, eingebunden in eine ontologische Hierarchie.
Aber was heißt es, wenn wir dieses Wertempfinden ins Irrationale verschieben? Ist es denn nicht so, dass wir durchaus vernünftig über solche Wertfragen diskutieren können, und gibt es nicht eine kompetente Literatur zur ökologischen Ethik, die sich gerade um solche Fragen des intrinsischen Wertes von Lebewesen kümmert? Ist das, was Lorenz vorbringt, nicht etwa auch ein Argument, und wäre nicht der Begriff eines ‚irrationalen Arguments‘ ein Widerspruch in sich? Tatsächlich geht Lorenz davon aus, dass menschliche Vernunft in der wissenschaftlichen Vernunft aufgeht, und dann bleibt ihm eben nur noch das Irrationale für die überlappenden Wertfragen, die in der Biologie als solcher nicht vorkommen.
Wir haben also den folgenden Sachverhalt: Die Biologie erklärt die Entwicklung der Lebewesen rein kausal, ohne alle Wertung, d. h. rein horizontal. Als Menschen können wir uns aber so nicht verstehen. Unabhängig davon, welche Moral wir vertreten, unterstellen wir doch immer eine gewisse Hierarchie von Werten, die uns mehr oder weniger wichtig sind. Wir denken also vertikal, und in diese Vertikale beziehen wir auch den Rest der Natur mit ein. Menschen sind die geborenen Metaphysiker. Sie lassen sich nicht einsperren in das Gehäuse der Wissenschaft, so nützlich sie im Übrigen sein möge, und deshalb ist die wissenschaftliche Vernunft nur Teil der Vernunft als Ganzer, und wir haben sehr wohl die Möglichkeit, im Rahmen einer solchen umfassenden Vernunft Wertfragen rational zu klären. Nicht zuletzt hierin zeigt sich, dass Vernunft nicht enggeführt werden darf. Sie transzendiert den innerwissenschaftlichen Bereich. Aber damit zeigt es sich, dass Thomas Nagel recht hatte, wenn er bestimmte Eigenschaften des Menschen aus dem evolutionären Schema herausnahm. Aber dann müssen wir uns mit dem anderen Horn des Dilemmas 2 beschäftigen: Wie macht es die Natur, Phänomene hervorzubringen, die ontologisch mehr sind als das, was die evolutionären Mechanismen nach Darwin hergeben? Wie ist echte Emergenz möglich? Was bedeutet das Entstehen von Neuem in der Evolution?
Solche Fragen sind nicht rein akademisch, so als handele es sich um Probleme, die die klugen Professoren in ihren Seminaren abhandeln, weil sie nichts anderes zu tun haben. Wenn wir die Meinung der meisten Biologen übernehmen, wonach die Evolutionstheorie die Eigenschaften aller Lebewesen unter Einschluss des Menschen erklärt, dann ist der Atheismus unausweichlich, denn die Erklärungsgründe der Evolutionstheorie beziehen sich nur auf materielle Prozesse. Hier kommt nichts Metaphysisches ins Spiel. Das erklärt auch, weshalb so viele Biologen Materialisten sind, was für die Physiker nicht gilt. Die Physik erklärt die Natur mit Hilfe von mathematischen Formeln, die eine gewisse Schönheit und Eleganz aufweisen. Das hat viele Physiker dazu veranlasst, diese Formeln als Ausdruck eines göttlichen Intellekts aufzufassen, aber in der lebendigen Natur geht es drunter und drüber und die Darwinschen Prinzipien sind nicht etwa elegant, sondern sie beschreiben einen tödlichen Krieg aller gegen alle.
Wenn dieser Krieg Erklärungsgrund aller Lebensphänomene unter Einschluss des Menschen ist, dann sind atheistische Schlussfolgerungen unvermeidlich. Von daher ist ein gläubiger Mensch in dieser Frage gehalten, Position zu beziehen. Wenn er nicht mindestens zeigen kann, dass die Evolutionstheorie für gewisse herausragende Eigenschaften des Menschen falsch ist, dann hat er verloren. Die Frage nach der Emergenz, nach dem Entstehen des Neuen, ist ein „articulus stantis et cadentis ecclesiae“. Hier entscheidet sich schlichtweg alles!
Der Begriff der ‚Emergenz‘ kommt in zwei Versionen vor, in einer schwachen und in einer starken. Die schwache Version ist so schwach, dass es sich schon fast nicht mehr lohnt. Sie bezieht sich auf holistische Systemeigenschaften, die die Teile eines Systems nicht aufweisen. Man drückt das auch manchmal mit dem Satz aus „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Diejenigen, die diesen Satz im Munde führen, halten ihn für besonders tiefgründig, aber er ist in Wahrheit ziemlich trivial. Es gibt nämlich kaum ein System, das nicht Eigenschaften aufwiese, die seinen Teilen abgehen, so dass es so gesehen überhaupt nur Ganzheiten in der Welt gibt. Die Alten haben das mit dem Satz „omne ens unum“ ausgedrückt: Alles, was existiert, bildet eine Einheit, sonst könnte es gar nicht existieren.
So haben z. B. einzelne Wassermoleküle keine Oberflächenspannung, wohl aber sehr viele Moleküle. Oder ein einzelnes Luftmolekül hat keine Temperatur und keinen Druck, wohl aber eine statistische Gesamtheit derartiger Moleküle. Man sieht an solchen Beispielen, dass sich schwache Emergenz und reduktionistische Wissenschaft sehr gut vertragen, denn die Oberflächenspannung von Wasser oder der Druck und die Temperatur von Gasen können wir ganz leicht physikalisch berechnen.
Man kontrastiert gerne Ganzheiten mit Aggregaten. Bei Aggregaten soll alles wirklich nur die Summe seiner Teile sein. In diesem Sinn würde man z. B. einen Sandhaufen für ein Aggregat halten. Es hat sich aber – zur Überraschung der Physiker – gezeigt, dass an Sandhaufen Lawinen nach ganz bestimmten Gesetzen abgehen, d. h., selbst hier zeigen sich Systemeigenschaften, die man nicht erwarten würde und die den Teilen abgehen. Also selbst bei einem Sandhaufen ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Wir können deshalb den Begriff der ‚schwachen Emergenz‘ auf sich beruhen lassen und wenden uns der starken Form zu, denn wenn sogar ein Sandhaufen eine Ganzheit im schwachen Sinn ist, dann grenzt schwache Emergenz praktisch nichts mehr aus. Dann ist alles eine ‚Ganzheit‘ in diesem trivialen Sinn, was uns nicht weiter beschäftigen soll.
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