Es scheint eben, dass wir die Bodenlosigkeit unserer eigenen Exstenz und die der Welt nicht aushalten wollen. Das Mysterium bedroht unsere Selbstsicherheit. Es setzt hinter allem, was wir tun, ein Fragezeichen. Der Szientist bringt das Mysterium zum Verschwinden. Er ersetzt die Fraglichkeit durch Kausalanalyse und rekonstruiert die Welt als eine krause Mischung aus blinder Notwendigkeit und ebenso blinden Zufällen. Dann ist die Welt zwar sinnlos, aber sie lässt sich immerhin berechnen und wir wissen endgültig Bescheid.
2. Ist der Mensch ein Produkt der Evolution?
Die Frage zu stellen, ob der Mensch ein Produkt der Evolution sei, scheint ziemlich überflüssig. Natürlich ist er das, wir haben ja die Ausgrabungen, die es beweisen. Aber die Frage war anders gemeint: Ist der Mensch ausschließlich und in jeder Hinsicht ein Produkt der Evolution, wie sie von den Darwinisten beschrieben wird? Selbst hier scheint vielen die Antwort selbstverständlich, ist es aber in Wahrheit nicht. Wenn nämlich der Mensch emergente, das heißt also neuartige Eigenschaften hat, die ansonsten so in der Natur nicht vorkommen, dann können diese Eigenschaften schwerlich durch die Evolution hervorgebracht worden sein, wie sie von der Biologie verstanden wird. Der Philosoph Thomas Nagel schrieb vor Kurzem ein Buch mit dem Titel „Geist und Kosmos – warum die materialistisch-neo-Darwinische Konzeption der Natur wahrscheinlich falsch ist.“ Dieses Buch hat viel Aufsehen oder sogar wütende Proteste hervorgerufen. Wie kommt ein Philosoph, der zudem bekennender Atheist ist, dazu, den Darwinismus für falsch zu halten, jedenfalls bezogen auf den Menschen?
Aber so einfach ist das nicht, denn Nagel bestreitet keineswegs, dass die Darwinistischen Prinzipien nützlich, ja unumgänglich sind, um das Werden in der Natur zu begreifen. Er bestreitet lediglich, dass diese Prinzipien hinreichend sind, menschliche Vernunft und Freiheit abzuleiten. Er hatte schon früher mit guten Gründen darauf hingewiesen, dass Menschen Eigenschaften aufweisen, die ansonsten in der Natur nicht vorkommen. Diese älteren Schriften haben kein solches Aufsehen erregt, obwohl sie doch im Grunde dieselbe These vertreten, denn wenn ich der Meinung bin, dass Menschen unableitbar emergente Eigenschaften wie Vernunft und Freiheit haben, die naturwissenschaftlich nicht erklärt werden können, dann muss ja doch der Darwinismus insofern unterdimensioniert sein, als dass er auf diese Eigenschaften nicht bezogen werden kann, also nicht imstande ist, sie zu erklären. Aber wie gesagt, all die Jahrzehnte, in denen Nagel dieselbe These vertrat, gab es keinen solchen Aufschrei. Man muss schon explizit sagen, dass der Darwinismus für den Menschen falsch ist, um wahrgenommen oder sogar verachtet zu werden.
Nagel schlägt vor, die Gesetze der Physik durch teleologische Gesetze zu erweitern, d. h. durch Gesetze, die Sinnperspektiven eröffnen. Die Gesetze der Physik, wie wir sie gewöhnlich verstehen, gelten einfach nur. Sie haben, so gesehen, keinen Sinn, sind aber nicht etwa sinnlos, sondern einfach nur sinnfrei, so wie die Planetenbewegungen nicht etwa sinnlos sind, sondern ganz einfach kein Anwendungsbereich von Sinnkategorien. Man kann z. B. nicht fragen „Wozu kreisen die Planeten um die Sonne?“. Hier gibt es einfach kein ‚Wozu‘, sondern nur ein ‚Dass‘.
Doch wenn die Menschen aus der Evolution hervorgegangen sind und wenn sie unhintergehbar in Sinnperspektiven leben, die durch Vernunft und Freiheit aufgespannt werden, dann kann dieser Sinn nicht aus dem Nichts hervorgegangen sein. Die Möglichkeit dazu war also im Universum schon immer vorhanden, und diese reale Möglichkeit verlegt Nagel in die Grundgesetze der Physik. Es ist aber nicht ganz klar, wie man die bekannten physikalischen Gesetze durch teleologische erweitern sollte, ohne ein widersprüchliches Durcheinander zu erzeugen. Das heißt, wir brauchen Nagels Lösungsvorschlag nicht zu übernehmen. Aber sein Gedankengang wäre dennoch zu diskutieren, denn er legt den Finger in eine Wunde des Physikalismus und unserer heutigen Weltauffassung.
Nagel hat – auch in seinen älteren Werken – das Verdienst, ohne Rücksicht auf den Zeitgeist das zu sagen, was ihm vernünftig erscheint, sei es gelegen oder ungelegen. Er denkt zu Ende, was andere nicht zu denken wagen, denn es gibt in Bezug auf die Frage nach der Herkunft des Menschen aus der Evolution nur zwei konsistente Antworten: 1) Entweder ist der Mensch mit allen Eigenschaften das ausschließliche Produkt der Evolution, wie sie von der Biologie beschrieben wird, also ein Tier unter Tieren, oder aber der Mensch hat 2) emergente Eigenschaften, die nicht in ein evolutionäres Schema hineinpassen. In diesem Fall wird der Darwinismus für diese Eigenschaften unzureichend sein, wie Nagel zu Recht betont.
Position 1) läuft darauf hinaus, dass der Mensch nichts Besonderes in der Natur ist. Schon Darwin hat das so gesehen. In seiner Sichtweise ist der Mensch zwar anders als die übrigen Tiere, aber noch längst nicht besser. Das heißt: Der Mensch kann zwar besser denken, aber nicht so virtuos klettern wie die Affen, und er fliegt auch nicht und sieht nicht so gut wie die Geier oder die Adler und er hackt auch nicht in die Bäume wie der Specht. Alle Lebewesen haben sich danach an ihre jeweilige Umwelt angepasst, und weil die Umwelten so verschieden sind, sind auch die Eigenschaften der Lebewesen grundverschieden und ihrer jeweiligen Umgebung bestens angepasst. So gesehen ist also der Mensch nicht mehr als ein Bakterium. Man könnte diese Auffassung eine ‚horizontale Weltanschauung‘ nennen, wenn wir unter ‚Vertikale‘ eine Wertehierarchie verstehen, die nach oben ausgerichtet ist. Im Handeln sind wir so etwas gewöhnt. Alle Menschen haben bestimmte Werte, die ihnen ganz wichtig sind, und andere, die sie auf der hierarchischen Skala weiter unten lokalisieren, sie denken also vertikal. Aber was wir in Bezug auf Handlungszusammenhänge ohne Weiteres als richtig unterstellen, nämlich eine solche vertikale Hierarchie, das bestreiten wir in Bezug auf die Natur. Dort gibt es keine Vertikale, keine Wertunterschiede, sondern alles liegt auf demselben Niveau, jedenfalls, wenn wir den Darwinisten folgen. Der Mensch ist in dieser Sichtweise nicht mehr, wie einstmals, die Krone der Schöpfung, ein Wesen mit einer hervorgehobenen Stellung in der Natur, sondern er rangiert sich gleichbedeutend ein in die Kette der übrigen Lebewesen. Es gibt Einzeller, Quallen, Pumas, Eichhörnchen und Menschen, und ihr Sein ist jeweils dasselbe, nämlich das Sein eines Organismus, der Nahrung braucht und sich fortpflanzt und der sich seiner Umgebung anpasst.
Wir könnten dies eine Art von ‚Demokratisierung‘ nennen. Noch im Mittelalter war jeder von der Sonderstellung des Menschen überzeugt und davon, dass die Natur eine vertikale Gliederung aufweist: Zuerst kommen die Steine, dann die Pflanzen, dann die Tiere und ganz zuoberst schließlich der Mensch als die Krone der Schöpfung. Dieser Hierarchie entsprach eine hierarchische Gliederung in der Ständegesellschaft: Bauern, Bürger, Krieger, Adlige, Klerus und ganz oben der Kaiser oder auch der Papst. Man könnte nun vermuten, dass die Einführung der Demokratie seit der Französischen Revolution dazu geführt hat, auch die Natur ‚demokratischer‘ zu verstehen, und dann hieße dies, dass diejenigen, die wieder eine Werteordnung in die Natur einführen wollen, antidemokratisch sind und dass sie sich auf die Art eines unzeitgemäßen Konservativismus in eine autoritäre Staatsform zurücksehnen. Aber so kurzschlüssig ist das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur nicht. Eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung mag bestimmte Naturauffassungen nahelegen, sie sind dennoch nicht durch die gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert, wie einstmals die Marxisten glaubten. Natur hat ihre Eigenständigkeit, und sie geht nicht darin auf, ein soziales Konstrukt zu sein.
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