Eine besonders schöne Geschichte der Verbundenheit erlebe ich mit meinem Bruder Christoph. Als wir Geschwister uns vor dem Lospilgern zum traditionellen Geschwistertreffen versammeln und auch ein Stück Weg miteinander gehen, trägt er einen Hut, den er in allen Tönen lobt. Er gibt ihn in der Runde herum und bittet Franz, der diesen Tag mit uns verbringt, ihn mal aufzusetzen. Der Hut passt Franz wie angegossen. Christoph fragt Franz, ob er den Hut als Geschenk annehmen würde, damit so etwas von ihm mit auf den Weg nach Jerusalem gehen könne. Franz nimmt das Geschenk gerne an. Ein guter Hut ist ein sehr wichtiges Detail für jeden Pilger. Gut behutet, ist man nämlich auch gut behütet. Nach dem Geschwistertreffen meldet sich bei mir eine kleine Eifersucht. Ich möchte auch einen Hut von meinem Bruder bekommen. Als ich ihm diesen Wunsch mitteile, entscheidet er sich, allen vier Pilgern einen Hut zu schenken.
Wenige Tage vor dem endgültigen Abschied treffe ich Christoph nochmals. Er erwähnt beiläufig, dass er mit mir einen Code vereinbaren wolle für den Fall, dass ich in eine Notsituation gerate. Ich könnte ihm dann das Codewort schicken und er würde sich dafür einsetzen, mich zu retten. Ich denke zunächst, dass er einen Witz macht. Aber nein. Er meint es ernst. Unser Codewort heißt: Vergissmeinnicht. Ich bin sehr berührt von dieser Zuwendung, von diesem konkreten Zeichen der Verbundenheit. Tatsächlich schaltet sich Christoph über SMS und Mail intensiv ein, als es ein paar Monate später darum geht, ob wir durch Syrien weiterpilgern sollen oder nicht. Er versorgt uns mit Artikeln aus der NZZ, nimmt Kontakt mit Nahostkorrespondenten auf, um ihre Meinung zu hören, er drückt seine Sorge aus und zeigt mir durch alles hindurch, wie sehr er mich liebt.
Verbundenheit erleben wir mit unzähligen Menschen weit über Familie und Freundeskreis hinaus. Wir spüren, dass wir mit unserem Weg etwas wagen und tun, das viele motiviert, auf ihre Weise mitzugehen. Einige drücken das durch ihre spürbare Präsenz über den Blog aus. Andere nehmen sich ein eigenes Projekt vor für die Zeit unseres Pilgerns. Wieder andere stoßen zufällig auf unsere Geschichte und nehmen über den Blog Kontakt auf.
Meine Schwester Barbara hat ihre Verbundenheit in einem berührenden Text für viele andere auf den Punkt gebracht. (ha)
Ich gehe auch nach Jerusalem
Nicht richtig, nicht wirklich
Und trotzdem gehe ich mit
Lebe ich mit
Ich werde weinen, wenn ihr geht
Ich werde bei euch sein im Gebet
An euch denken jeden Tag
Ich werde mich fragen, wie es euch geht
… Euer Weg spannt ein Friedensnetz in der Welt
Alle, die an euch denken, verstärken das Netz
Geben Kraft und vertrauen darauf
Euer Weg macht Sinn im Zeitenlauf
Das Ziel, jetzt noch weit weg,
Ist heute nicht wichtig
Wichtig ist der Weg
… Ich werde weinen, wenn ihr wiederkommt
Vor Freude über das Wiedersehen
Mein Herz wird überlaufen
Das weiß ich jetzt schon
Ich gehe auch nach Jerusalem
Nicht richtig, nicht wirklich
Und doch gehe ich mit
Lebe ich mit
Barbara Jäger-Aepli
Sie spielen und ziehen, sie engen ein und geben Halt, die Familienbande. Sie sind ein Geflecht, das mich durch mein Leben trägt. Ja, das sind sie wirklich. Während des Pilgerns ist mir das immer wieder bewusst geworden, ich bin Tochter und Schwester und Erstgeborene. Immer war ich mehr oder weniger konform, tat, was man tut als Älteste. Jetzt aber breche ich aus, gehe weg, tue etwas Eigenes – und ich werde gelassen, mit Segen und Liebe. Die Familie Rüthemann ist sich vertraut, wir wissen voneinander, treffen uns regelmäßig und sind gesprächig. Aber noch nie habe ich mit meiner Familie so nahe, ehrliche, berührende Mails ausgetauscht wie während der Pilgerschaft. Wir nehmen uns wirklich Zeit, einander vom jeweiligen Leben zu erzählen, werfen Fragen auf, lassen Anteil nehmen, reden von früher und brauchen Rat. Immer erleben wir das sichere Aufscheinen der Liebe zwischen uns. So erinnere ich mich zum Beispiel ganz genau an den Ort, wo wir gerade waren, an die Menschen, die am gleichen Tisch saßen, an das Getränk vor mir, als eine so wunderbar berührende Mail meiner Schwester ankam.
Eine besonders große Überraschung erlebe ich in Istanbul. Auf meinem Nateldisplay erscheint die Nachricht meines Bruders: Was machst du heute Abend? Ich antworte, erzähle dies und das. Plötzlich lese ich mit großen Augen: Lust auf ein Glas Wein? Ich bin in zwei Stunden bei dir! Was?! Kilian besucht mich mitten auf dem Weg nach Jerusalem. Und mitten auf dem Weg werde ich hineingenommen in die tragenden Familienbande. Wie schön, für ein paar Stunden einfach Schwester zu sein, an gemeinsame Jahre anzuknüpfen, zu erkennen, wir sind beide „groß“ geworden, stehen auf demselben Boden, mit derselben Erziehung. Wir können kritisch zurückschauen, brauchen keine Angst zu haben vor Verlust, sehen, wie wir trotz der Unterschiedlichkeit in unseren Berufen mit Ähnlichem herausgefordert sind.
Für meine Eltern gehört mehrmals täglich der Klick auf den Blog zum Alltag. Sie leiden mit, freuen sich, beten intensiv für uns, interessieren sich, nehmen Anteil und ich weiß jetzt schon, sie werden es vermissen, dass sie später nicht mehr so viel von meinem Leben mitbekommen wie beim Unterwegs-Sein. Aber sie wissen vielleicht mehr denn je, wer ich bin, was für eine Tochter sie haben – wunderbar! (er)
Das Pilgerstübli Eschenbach
Wir haben von sehr vielen Freunden in der Schweiz vor dem Start Abschied genommen. Viele begleiten uns weiter im Gebet. Die Zisterzienserinnen des Klosters Eschenbach (Kanton Luzern) haben die Anschlagtafel vor ihrer Kapelle neu gestaltet. Sr. Ruth, eine gute Freundin von Hildegard, hängt dort jeden Morgen vor dem ersten Gebet die Blog-Beiträge der Pilger aus, sodass alle Interessierten sie lesen können. Jeden Morgen gedenken sie unser im Gebet. Sr. Ruth selber schreibt hin und wieder einen Kommentar, öfter meldet sich Sr. Christa zu Wort. Sr. Paula lässt uns ausrichten, dass sie uns jeden Morgen im Gebet segnet. Durch unseren Blog erleben wir, wie sehr viele Menschen unseren Weg verfolgen, manche nur durch häufiges oder gar tägliches Lesen, andere steuern regelmäßig einen Kommentar bei, spinnen unsere Gedanken im Blog weiter. Wir spüren, dass das Gebet vieler Menschen uns begleitet, insbesondere in der angespannten Situation Syriens wird es für uns stärkendes Fundament.
Meine Mutter sagte mir, sie könne nicht mehr mitgehen – sie ist beinahe bettlägerig. Aber beten wird sie jeden Tag für uns. (fm)
Die erste Etappe durch die Schweiz
Umgeben von Lieben, von den Freundinnen und Freunden, der Familie, von Bekannten und Unbekannten feiern wir am 2. Juni 2011 den Aussendungsgottesdienst im Lassalle-Haus. Ich bin gerührt. Viele Tränen fließen. Ich kann es gar nicht richtig einordnen. Es fließt und fließt und fließt. Tief in meinem Innern nimmt die Größe, das Unwirkliche, das Unbegreifliche Raum ein. Die Liebe und Stärke, der große Glaube an uns und all der Segen, der über uns ausgerufen wird, sind im ganzen Kirchenraum spürbar. So gestärkt, gehen wir los in den ersten Tag hinein, begleitet von über 200 Menschen, die mit uns die erste Etappe bis Einsiedeln pilgern.
Und dann nochmals Abschied. Vor der Klosterkirche in Einsiedeln kommen die Vielen, die uns an diesem Tag hierherbegleitet haben, nehmen uns in die Arme, wünschen uns das Beste und stecken nochmals Glücksbringer zu. Der ganz persönliche Segen meiner Freundin, die nicht mitlaufen konnte, aber eigens nach Einsiedeln reiste, berührt mich und begleitet mich jeden Tag.
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