Gute Voraussetzungen für unser Unternehmen gibt es aber dennoch, füge ich jeweils an: mentale Stärke mit einem Durchhaltewillen, der Schwierigem und Schwerem nicht ausweicht, sondern darin Möglichkeiten fürs Weitergehen sucht. Gesunder Menschenverstand, der nicht leistungsbetont ausgerichtet ist. Der Glaube, dass das Vorhaben in Gottes Hand liegt, sodass die nötige Kraft und die Bereitschaft, mit Unsicherem und Ungewissem umzugehen, auch von einer Quelle gespeist wird, die außerhalb des uns Machbaren liegt. (ha)
ZWEITES KAPITEL:
Abschied
Endlich
Die Klarheit über Gruppe und Zeitpunkt des Pilgerns legt die nächsten Schritte der Vorbereitung nahe. Seit elf Jahren leite ich das Studierendenhaus Salesianum in Freiburg / Fribourg, habe da unter rund 100 Studierenden gelebt und gewirkt. Eine große und erfüllende Aufgabe. Als Allein-Stehende bezeichne ich diese Jahre als „Mutterjahre“. Ich war da. Die Studierenden wussten, dass sie jederzeit an meine Tür klopfen durften. Ich schätzte die Kontakte zu vielen jungen Menschen aus allen Landesteilen der Schweiz und zuweilen aus bis zu 21 anderen Nationen – eine Art Swissminiatur war das Umfeld dieses Lebensabschnitts.
Ich kündige meine Arbeitsstelle und entscheide mich, die Wohnung aufzulösen, Hab und Gut einzulagern. Was danach sein wird, ist noch unklar. Ich weiß aber um die privilegierte Situation als kirchliche Mitarbeiterin. Ich kann ohne Bedenken davon ausgehen, wieder eine gute Stelle zu finden. Der Abschied von allen Hausbewohnenden im Salesianum, vom Personal und von der Stadt Freiburg / Fribourg ist sehr bewegend und erfüllend. Im Gottesdienst erhielten Franz und ich einen Pilgerstab, auf welchen die Anfangsworte des Gebets von Franz von Sales eingeschnitzt sind: „Wenn dein Herz wandert oder leidet, bring es behutsam an seinen Platz zurück und versetze es sanft in die Gegenwart deines Gottes. Und selbst wenn du nichts getan hast in deinem ganzen Leben außer dein Herz zurückzubringen und wieder in die Gegenwart unseres Gottes zu versetzen, obwohl es jedes Mal wieder fortlief, nachdem du es zurückgebracht hattest, dann hast du dein Leben wohl erfüllt.“
Ich kann leichten Herzens weiterziehen. Die Studierenden stehen Spalier und begleiten mich zum Bahnhof. Tränen? Nein. Ich bin froh, dass endlich beginnt, woraufhin ich lange Zeit hingelebt habe. Ich bin dankbar, dass ich die Freiheit habe, mich aus allem herauszunehmen und einen großen und unbekannten Weg zu beschreiten. (ha)
Karten mit Segenswünschen und E-Mails zum Adieu-Sagen, eine leichte Feder und ein kleiner Kristall, ein Schutzengel aus Olivenholz und ein Teddybär als Maskottchen, Fußsalbe und Blasenpflaster, eine CD mit Texten zum Durchhalten und Pilgertabletten, ein Kompass und ein Taschenmesser, ein Kerzchen und ein starker Spiritus … unzählig und vielfältig, witzig und nützlich, hilfreich und tröstend sind die Zeichen des Abschieds, die in diesen Tagen des Aufbrechens zu mir gelangen. Mein Herz ist berührt von der Anteilnahme. Hin und wieder staune ich, welche Ideen sich Menschen von einem solchen Pilgerweg nach Jerusalem machen. Wie realistisch sind sie? Wie realistisch sind meine Gedanken? Die einen würden gerne mitwandern, sagen sie. Die anderen sind froh, dass sie zu Hause bleiben können. Vielleicht gehen wir für beide Gruppen von Menschen stellvertretend. (chr)
Tränen des Abschieds gibt es bei meiner sechsjährigen Nichte Manon. Als sich alle meine Geschwister und deren Familien zum Abschied für mich treffen, beginnt die Kleine herzzerreißend zu weinen. Und sie hört gar nicht mehr damit auf. Als ich sie in die Arme nehme und nach dem Grund der Traurigkeit frage, schluchzt sie: „Ich verstehe einfach nicht, warum du so lange und so weit weg gehst.“ Später nimmt sie ihre Kette, die Lieblingskette mit einem großen silbernen Herzen, vom Hals und hängt sie mir um. Dieses Zeichen von Manon und ihr Schluchzen berühren mich sehr. Ich trage ihre Kette in meinem Rucksack mit. An Weihnachten, so ich den Weg schaffe, werde ich diese in Bethlehem zur Krippe des Jesuskindes legen. (ha)
Mittwochmorgen, der 1. Juni 2011. Jetzt ist es so weit! Heute verlasse ich mein Haus und meine Arbeit. Ich stehe mit einem mulmigen Gefühl im Bauch auf. Das Erste, was mir ins Auge fällt, ist der gepackte Rucksack im Gang, die imprägnierten Schuhe, die Kleider, die mich jetzt viele Tage anziehen. Meine Schränke sind leer, das Badezimmer ist geputzt, den Blumen habe ich Wasser gegeben, schnell noch den Balkon schön gemacht und mit dem Staublappen überall drübergefahren. Alles ist bereit für die Untermieterin, die sieben Monate lang meine vier Wände bewohnt.
Bald kommen zwei Journalistinnen der beiden Ortszeitungen. Sie wollen ein Bild der Abreise, versprechen hie und da etwas zu schreiben. Ich stelle mich in Pose, binde die Schuhe und winke in die Kamera. Ein letzter Umtrunk im Haus mit meinen Arbeitskollegen ist organisiert. Uff, meine Beine sind ganz weich, denn das Abschiedsgeschenk meines Teams berührt mich sehr. Sie schenken mir ein Assisikreuz und das Versprechen: Wir werden jeden Tag für dich beten. Viele haben mir etwas zugesteckt: einen Schutzengel, einen Glückskäfer, einen besonderen Bonbon, einen Segen, ein Medaillon, ein Einrappenstück, ein Heiligenbildchen, ein Stück vom eigenen Glück, ein Foto und vieles mehr. Ganz zum Schluss bekomme ich noch ein wirklich leichtes Mitbringsel: eine Zeichnung direkt aufs Bein mit einem Segensspruch. Und dann ist es wirklich Zeit zu gehen. Es steigen Tränen der Angst und der Freude in mir hoch – ich gehe. Weiß noch nicht, dass sich am nächsten Tag beim Abschiedsgottesdienst im Lassalle-Haus die Tränen wieder Raum suchen und ich sie nicht werde zurückhalten können. Ja, es ist ein Abschiednehmen in Etappen, zuerst bei der Arbeit, zu Hause, dann in der Familie, von Freunden und Freundinnen und zwei Tage später noch von meinem Partner. Mein Herz ist wund und frei. Ich bin bereit. Die Tränen befeuchten den Acker der Sehnsucht und des Vertrauens. (er)
Wallfahren heißt für mich: Heimat zurücklassen
Dem vielverkauften Buch über seine Wallfahrt gab Hape Kerkeling den Titel „Ich bin dann mal weg“. Weg-Sein ist ein Stichwort, Fortgehen die Voraussetzung dazu. Wallfahren heißt zunächst fortgehen, die Familie für diese Zeit zurücklassen, die meisten Bekannten nicht mehr sehen, kaum einen Kontakt mit ihnen haben. In dieser Zeit verlasse ich die Arbeit. Die Freuden und Sorgen des Arbeitsplatzes und der Bekannten nehme ich ins Gebet mit, aber ich kann dort nicht mehr intervenieren. Ich ziehe in die Fremde und werde selber ein Fremder – für alle Menschen auf dem Weg. Ich bin (fast) überall Ausländer. Wie werde ich als Ausländer, als Fremder wahrgenommen, behandelt und – hoffentlich – aufgenommen – oder abgewiesen? Aber auch mir sind die Leute unterwegs unbekannt. Wie gehe ich auf sie zu?
Ich bin dankbar, dass wir als kleine Gruppe unterwegs sind. Zugleich bin ich lange Strecken allein. Ich setze mich der Heimatlosigkeit aus. Meist weiß ich nicht, wo ich am Abend schlafen werde. Es braucht Kraft, dieses Ausgesetzt-Sein auszuhalten. Jeden Tag bin ich auf die Hilfe von mir völlig fremden Menschen angewiesen. Es kostet mich Überwindung, ihre Hilfe anzunehmen, weil vieles nicht mit Geld zu begleichen ist. Zugleich kommen mir immer wieder Gedanken an zu Hause, die mich beschäftigen. Wie es da wohl geht, besonders meiner Mutter, die alt und schon gebrechlich ist? Wie läuft es in der Umgebung meiner Arbeitsstelle, wo andere dankenswerterweise viele meiner Verpflichtungen übernommen haben? Nur sporadisch bekomme ich darauf eine Antwort. Heimat zurücklassen – Wallfahren tut auch weh. Es ist ein echter Abschied, mindestens auf Zeit. (fm)
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