Das Ja in mir ist klar und bedenkenfrei. Zuhause angekommen, diskutieren wir zwei das Projekt nochmals und Christoph gibt zur Antwort: Kann ich dich denn halten? Würde es unserer Beziehung guttun, wenn ich sage, bleib doch da? Du musst es tun, und ich warte auf dich.
Es kribbelt und schafft in mir drin, und überall, wo ich davon erzähle, sind die Menschen verblüfft und staunen. Es ist wunderbar!
Es dauert noch über zwei Jahre, bis wir losgehen, und doch ist es mir jetzt schon wichtig, mit dem Arbeitgeber meine Situation zu klären. Ich informiere den Personalchef. Er meint, das könne er nicht selber entscheiden, er müsse zuerst den Kirchenverwaltungsrat fragen. Worauf ich nochmals sage, ich werde im Juni 2011 loslaufen. Er wiederum, das ginge nicht so schnell, er müsse es besprechen. Ich antworte ihm: Wenn es nicht geht, werde ich kündigen. Ich bin entschieden, im Juni 2011 zu Fuß nach Jerusalem zu pilgern. Stille. Okay, antwortet er schließlich, ich werde es so mitteilen. Ich gehe beschwingt aus diesem Gespräch heraus mit dem sicheren Gefühl: Es ist richtig. Es gibt kein Wenn und Aber, nur ein großes Ja. Dabei bin ich keine Mutige, sondern sehr ängstlich und sicherheitsbedürftig.
Darüber staune ich fast am meisten.
Irgendwie kommt es mir bekannt vor. Das habe ich in der Bibel doch schon oft gelesen. Da wird einer gerufen, lässt alles stehen und liegen und folgt Jesus nach. Ich wundere mich darüber, dass ich früher das Einfach-so-Gehen in den biblischen Texten gar nicht verstehen konnte. Man kann doch nicht einfach gehen, ohne sich zu verabschieden, etwas ganz Neues tun und nicht wissen, was die Zukunft bringt. Jetzt ist es für mich genauso. Ich kann alles stehen und liegen lassen und gehen. Es fühlt sich richtig an, dass ich dabei bin. Ich bin gerufen. Ich bin gemeint. Ich sage ja, hier bin ich. (er)
Hildegard hat mir erzählt, sie beteilige sich am Projekt der Wallfahrt nach Jerusalem. Sie machte mir Andeutungen, sie könnte sich gut vorstellen, dass ich auch mitlaufe. Das entscheidende Wort hatte Christian. Er fragte mich im Frühling 2008, doch musste ich da noch überlegen, ob ich es mit meinem Beruf koordinieren kann. Die Chance war, dass ich mein Freisemester für dieses Projekt einsetzen konnte, wenn mein Arbeitgeber, die Universität Freiburg / Fribourg, damit einverstanden war. Im zweiten Anlauf akzeptierte die Universität das Vorhaben und unterstützte es dadurch, dass sie mir zusagte, während meiner Wallfahrt fünfzig Prozent meines Gehaltes weiterzuzahlen. Das war eine große Erleichterung, denn zunächst hatte es nach einem unbezahlten Urlaub ausgesehen.
Jerusalem ist für mich ein widersprüchlicher Traum. Einerseits ist es eine besondere Geschichte, die mir als Katholik besonders wichtig ist: die Geschichte des Volkes Israel und die spezielle Episode des Lebens Jesu in diesem Land. Dazu kommen die aktuelle Situation und die Ereignisse der letzten Jahrzehnte, die von der Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und Israelis geprägt sind, von den Eroberungen der Israelis, der Verteidigung und den Angriffen durch die Palästinenser. Diese Kriegs- und Eroberungsgeschichte, das immense Leid auf beiden Seiten, hinderte mich bisher daran, nach Israel zu reisen. Einige Male habe ich es abgelehnt, wie ein Tourist oder Geschichtsprofessor hinzureisen, der aus interessiert-luxuriöser Distanz das Land und seine Geschichte durchforstet und den das leidvolle Schicksal der Bewohner unberührt lassen soll.
So kam mir diese Anfrage, zu Fuß hinzugehen, entgegen. Ich möchte diese Strapaze auf mich nehmen als Zeichen dafür, dass ich vor den Menschen im Heiligen Land in ihrer äußerst schwierigen und verkeilten Situation Respekt zeigen will. (fm)
In neun Monaten starten wir als Pilgergruppe zu Fuß von der Schweiz nach Jerusalem. Eine Vision beginnt sich zu verwirklichen. Die Vorbereitungen laufen bereits seit mehr als einem Jahr. Das Team musste sich finden und die Idee – spirituell, interreligiös und politisch unterwegs zu sein – langsam Gestalt annehmen. „Zu Fuß nach Jerusalem“ ist eine Vision für die Zukunft. Das Projekt ist keine Privatsache, sondern will möglichst viele Menschen mit auf den Weg nehmen, um das Leben als Weg zur Mitte zu verstehen. Gemeinsam in der Schweiz und nach Jerusalem unterwegs sein soll ein Netzwerk von Freundschaften entstehen lassen. Seminare und Tagungen haben wir zusammengestellt, um eine Neuausrichtung auf Frieden und Dialog und eine spirituelle Erneuerung von der Mitte der Welt her zu ermöglichen. Ohne Bildung und ohne ein Anknüpfen an die Geschichte gibt es kein verantwortetes Gestalten der Zukunft. Die säkulare Welt wie auch die jüdische, christliche und muslimische Tradition sollen je miteinander ins Gespräch gebracht werden. So können Brücken geschlagen werden, um über Grabenkämpfe hinweg in Verschiedenheit und gemeinsam an der Zukunft zu bauen. Zum Pilgern gehören auch das Schweigen und Meditieren, das Beten und Feiern. So möchten wir mit „Zu Fuß nach Jerusalem“ einen vielfältigen Raum der Begegnung und des gemeinsamen Lernens eröffnen. Die Friedenskonferenz an Weihnachten 2011 in Jerusalem soll ein Höhepunkt werden. (chr)
Seit drei Tagen bin ich in Jerusalem, mitten in der Altstadt, im muslimischen Quartier. Jeden Morgen um 4 Uhr höre ich den Muezzin, dreh mich im Halbschlaf. Das Laubhüttenfest prägt die Stimmung. Juden gestalten ihre Festtage ganz unterschiedlich. Eine Vielfalt jüdischer Traditionen kommt zum Ausdruck. Auf der Via Dolorosa drängen sich christliche Pilger und sprechen verschiedenste Sprachen. Dann Touristen, die nicht einer bestimmten religiösen Tradition zuzuordnen sind. Ich habe den Eindruck, dass die Einwohner hier vieles über sich ergehen lassen müssen. Ob sie über all die Pilger und Touristen froh sind? Machen sie nicht die Altstadt zu einem Museum und zu einem großen Souvenirbazar? Doch wer in Jerusalem wohnt, wohnt nicht privat für sich. Hier ist Wohnen ein politisches und religiöses Statement. Werden uns die Bewohner in einem Jahr anders wahrnehmen, wenn wir zu Fuß nach sieben Monaten ankommen? Anders als jetzt, wo ich in einem guten halben Tag den Weg hinter mich gebracht habe?
In weniger als vier Stunden bin ich von Zürich nach Tel Aviv geflogen. Immer dachte ich daran, wie es sein wird, wenn wir im kommenden Jahr die Strecke zu Fuß zurücklegen. Vier Stunden oder sieben Monate für die gleiche Strecke! Nein, 2800 km Fluglinie und 4300 km Landweg zu Fuß. Irgendwie ist es ungerecht, denke ich. Wenigstens könnte für die Pilger die Strecke kürzer sein, wenn sie schon nicht so rasch wie ein Flugzeug vorankommen. 750 km/h, 800 km/h, 850 km/h … noch nie habe ich so oft auf den Bildschirm mit den Fluginformationen geschaut. Im nächsten Jahr 25 km pro Tag, 30 km, wenn es hochkommt, geht mir durch den Kopf. Ja, irgendwie ist das Leben ungerecht. Der Flug lässt in mir den Respekt vor dem eigenen Mut wachsen. Verhalten ist die innere Freude.
Gestern war ich in Yad Vaschem, der Schoa-Gedenkstätte in Jerusalem, mit ausgezeichneter Führung durch Tamar. Ich kenne die Geschichte der Nationalsozialisten, ihren Wahn zur Ausrottung der Juden. Es trifft mich wieder neu. Unglaublich, wie das Böse die Fratze zeigen kann, wie Menschen sich entmenschlichen können! Ja, Jerusalem ist das einzige Ziel, für das ich sieben Monate Pilgern unter die Füße nehme. Für keinen andern Ort! Kein Ort wie Jerusalem repräsentiert Gott, der den Opfern der Geschichte nahe ist. (chr)
Die Bedeutung von Jerusalem
Viele Menschen pilgern heute auf dem Jakobsweg. Wir entscheiden uns für Jerusalem. An einem der ersten Vorbereitungstreffen fragt Christian: Was bedeutet Jerusalem für euch persönlich? Die Frage wirkt auf mich bedrängend. Ich müsste jetzt etwas Kluges sagen, ich habe doch Theologie studiert, flüstert ein Gedanke. Meine Stärke aber ist nicht, locker und fundiert auf solche Fragen zu antworten. Meine Gabe ist es, einer Frage Raum zu geben, offen zu sein, zu warten und ehrlich Antwort zu geben.
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