Gegenwirklich zu seinem Glauben betet Schneider, kontrafaktisch zu seiner Depression und Verzweiflung bleibt er Kirchgänger. Das Ritual rettet die darin symbolisierte Wirklichkeit auch gegen die diesbezügliche Erfahrungslosigkeit und Erfahrungsmüdigkeit des Menschen. So kann Schneider schreiben: „Nicht mit unserm Glauben ergreifen wir das Sakrament, das Sakrament ist vielmehr so stark, dass es unsern Glauben immer aufs neue schafft. Vielleicht bedürfen wir nicht einmal der Überlieferung vom Leben des Herrn und seiner heiligen Worte; wir wissen: ER ist da; ER ist in dieser Welt und bleibt in ihr, und seine ganze heilige Macht will mit dem Sakrament in unser Leben treten.“ 36
Es ist sicher gut, möglichst viele Plausibilisierungswege zur Hoffnung über den Tod hinaus zu suchen und zu finden, doch die Erfahrung des Sterbens ist oft auch die Erfahrung des Sterbens aller Hoffnung. Es ist dies ein Nichtcredo, das den eigenen Nichtglauben nicht zum Maßstab dessen macht, was von Gott her „gegeben“ ist, auch was von ihm an Hoffnungsspur über den Tod hinaus gegeben ist. Denn es kann durchaus sein, dass mit dem Schwächerwerden des Körpers und dem Schwächerwerden der psychischen und geistigen Kräfte auch ein Schwächerwerden der Hoffnung einhergeht bis hin zum Tod der Hoffnung im Sterben selbst. So dass sich der radikale Bruch des Todes auch im radikalen Bruch einer Lebensund Denkmöglichkeit über den Tod hinaus spiegelt. „Es ist noch keiner zurückgekommen!“, sagt der Volksmund. Neues Leben ist gar nicht anders zu denken als durch eine göttliche Handlung, die diesen totalen Ab-Bruch überbrückt. Im Gebet und im Sakrament das von dieser sterbenden Hoffnung unabhängige Zeichen bleibender Hoffnung zu erfahren, zu sehen, kann ein Trost eigener Art in dieser Phase sein.
Diese Verobjektivierung des Ausstehenden im Wort und im Symbolhandeln ist eine Vorgegebenheit, analog zu den sakramentalen Ritualen, in denen die Vorgegebenheit der Liebe Gottes als Wirklichkeit gefeiert wird. 37Schneider geht zur Heiligen Messe, begeht sie gegenläufig zu seinen Erfahrungen. Eine eigenartige Paradoxie, die im Vollzug Doxologie ist: Anerkennung Gottes jenseits eigener Befindlichkeit und immer größer als das eigene Vermögen. Die Menschen müssen nicht daran glauben, damit die Verheißung wirksam wird, sie ist jenseits von Glaube und Nichtglaube wirksam. Der Glaubende in der Oberkirche glaubt stellvertretend–völlig frei von Zugriffsphantasien – für die Nichtglaubenden in der Krypta.
2.4. Liturgie auf der Grenze
Die Sicht auf die Differenz, auf den möglichen Widerspruch zwischen Ritual und Leben, hat enorme pastorale Konsequenzen: Die bisherige Perspektive, die Liturgie als zentrales Geschehen im Binnenraum der Kirche zu sehen, wird korrigiert durch die Perspektive, dass es sich mit dem Ritual immer auch um Vorgänge handeln kann, die zwischen innen und außen vermitteln. Sie liegen also auf der Grenze und haben auch in diesem Sinn liminalen, grenzüberschreitenden Charakter. So gibt es auf der einen Seite soziale und persönliche Erfahrungen, die dem, was in der Liturgie gefeiert wird, ähnlich sind. So wird man auf der anderen Seite auch damit „rechnen“ dürfen, dass die Liturgie auch gegen die erlebte Realität ihre Wirklichkeit entfaltet und entsprechende Auswirkungen „nach außen“ hat. Dabei kann sich das zum Ritual Konträre auch nach innen (bei unerträglichen Leiderfahrungen) und korrespondierend nach außen (bei Erfahrungen des Geschütztseins) ereignen.
Wer konnte schon voraussehen, dass gerade die Erfahrung eines Weihnachtsgottesdienstes am 25. Dezember 1886 in Notre-Dame in Paris beim freidenkerischen und gottlosen Paul Claudel die Bekehrung auslösen würde. „Ich fing damals mit schriftstellern an, und es schien mir, als könne ich in den katholischen Zeremonien, die ich mit einem überlegenen Dilettantismus betrachtete, ein geeignetes Reizmittel und den Stoff für einige dekadente Übungen finden. … Ich selbst stand unter der Menge, nahe beim zweiten Pfeiler am Chor-Anfang, rechts auf der Seite der Sakristei. Da nun vollzog sich das Ereignis, das für mein ganzes Leben bestimmend sein sollte. In einem Nu wurde mein Herz ergriffen und ich glaubte. Ich glaubte mit einer so mächtigen inneren Zustimmung, mit einem so gewaltsamen Emporgerissenwerden meines ganzen Seins, mit einer so starken Überzeugung, mit solch unerschütterlicher Gewissheit, dass keinerlei Platz auch nur für den leisesten Zweifel offen blieb. … Bei dem Versuch, den ich schon öfter angestellt habe, die Minuten zu rekonstruieren, die diesem außergewöhnlichen Augenblick folgten, stoße ich auf eine Reihe von Elementen, die indessen nur einen einzigen Blitz bildeten. … Denn meine philosophischen Überzeugungen waren unangetastet geblieben. Gott achtete ihrer nicht und überließ sie ihrem Schicksal; ich sah keinen Anlass, sie zu ändern; die katholische Religion kam mir nach wie vor wie ein Schatz törichter Anekdoten vor; ihre Priester und Gläubigen verursachten mir die gleiche Abneigung, die sich bis zum Hass, ja bis zum Ekel steigerte. Das Gebäude meiner Ansichten und Kenntnisse brach nicht zusammen, und ich entdeckte keinen Fehler an ihm. Ich war aus ihm herausgetreten, das war alles, was geschehen war. Ein neues gewaltiges Wesen mit schrecklichen Forderungen für den jungen Menschen und Künstler, der ich war, hatte sich offenbart, das ich mit nichts von dem, was mich umgab, in Einklang zu bringen verstand. Der Zustand eines Mannes, den man mit einem Schlag seiner Haut entrisse, um ihn in einen fremden Körper und mitten in eine ihm unbekannte Welt zu verpflanzen, ist der einzige Vergleich, den ich finden kann. … Was meinen Ansichten und Neigungen am meisten widersprach, gerade das sollte wahr sein, gerade damit sollte man sich wohl oder übel zurechtfinden. Ach! Dann aber wenigstens nicht, ohne dass ich nicht alles, was in meiner Macht stünde, an Widerstand aufzubieten versucht hätte. Der Widerstand hat vier Jahre lang gewährt.“ 38
Claudel war damals 18 Jahre alt. Sein Bericht zeigt sehr deutlich jene Spannung zwischen Liturgie und Leben, die er jahrelang in sich selber austrägt. Die externe Gegensatz-Erfahrung, die das Ritual ausgelöst hat, ermöglicht die innere Auseinandersetzung, die ihn nicht mehr loslässt. Hier zeigt sich eindrücklich, wie die Liturgie das Unbedingte und das Nicht-Hintergehbare der Gegebenheit Gottes in der Symboldramatik dem Menschen gibt und aufgibt. Auf diese Wirkung Gottes durch das Ritual hindurch ist in der Pastoral Vertrauen zu setzen.
Man darf auch nicht übersehen, was angeblich oder wirklich agnostische und religiös „unmusikalische“ Menschen gerade in der Vorgegebenheit der Liturgie wahrzunehmen vermögen: einen ihnen gegenüberstehenden Vollzug einer Hoffnung, die sie (noch) nicht teilen können, die sie aber um der Menschen willen „irgendwie“ schätzen, ja hochzuschätzen und zu schützen vermögen. Der Kulturphilosoph Ullrich Schwarz erzählt nach einem Vortrag von der Religion als „metaphysischer Abfalllösung gegen den Tod“, durchaus in der Sprachform eines analytischen Agnostikers: Bei einem zufälligen Kirchenbesuch zur Osterzeit hört er das alte Osterlied, in dem in der Auferstehung Christi die Auferstehung der Menschen besungen wird: „Christ ist erstanden von der Marter alle. Des solln wir alle froh sein; Christ soll unser Trost sein … Wär er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen. Seit dass er erstanden ist, so freut sich alles, was da ist.“ 39Religiös unmusikalisch, beeindruckt ihn dieses Lied doch, diese Funktion der Religion als Auflehnung dagegen, dass alles am Ende zu Ende sei. Zum Glauben kommt er dadurch nicht, aber er sieht in der Liturgie eine „Hohlform“, in der den Menschen ihre subjektive Unwichtigkeit genommen wird, von einem Gott, der ihnen unbedingte Anerkennung schenkt und, weil er allmächtig, diese auch mit ewigem Leben verwirklicht.
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