Ein weiteres Plus an Ritualen ist ihre Entlastungsqualität: „Rituale sind wie ein festgeschriebenes Skript: Man hat seinen Platz und muss nicht überlegen, wie man sich zu verhalten hat, sich nicht hinterfragen und kann einen Augenblick einfach nur mitgehen. Sie vermitteln uns Sicherheit. Und dieses Gefühl braucht jeder von uns. … Ja, wir brauchen diese Anker, weil sie uns Kraft und Energie geben.“ 5Rituale sind „Stopper“ im Alltag, wo man ankommt und loslassen kann. Denn „erst wer loslassen kann, kann weitergehen“ 6.
Menschen brauchen also Rituale, um im Leben und Zusammenleben einen Halt zu finden. Weil man Rituale wiederholen kann und nicht immer wieder neu herstellen muss, entschleunigen sie das Leben, geben Ruhe und Kraft. Diese neue Aufmerksamkeit für Rituale berührt auch die religiösen Symbolhandlungen mit entsprechenden Wünschen, Erwartungen und Hoffnungen. Rituale vollziehen das Gleiche, was Symbole leisten, allerdings so, dass es sich nicht (nur) um geprägte Wörter oder Bilder, sondern um geprägte Handlungen handelt.
Im kirchlichen Bereich gehören die Sakramente zu den wichtigsten Ritualen. Sie sind nach wie vor mehr gefragt als die Kirchen und ihre Gemeinden selbst. Die Verantwortlichen in Seelsorge und Pastoral gehen damit sehr unterschiedlich um. Manche Unsicherheit, ob man die Sakramente einfach „gratis“ spenden könne, verbindet sich mit letzten Versuchungen, zu reglementieren und wenigstens bei der Zulassung zu den Sakramenten noch Bedingungen zu stellen und so pastorale Macht auszuüben. Jenseits der Alternative zwischen „Ausverkauf und Rigorismus“ 7sind Wegweisungen zu entdecken, die hier weiterhelfen. Dabei kommt es darauf an, dass die menschliche Erfahrung des Rituals als Ort der Ruhe und der Kraft sich auch in der Erfahrung der sakramentalen Rituale wiederfindet.
Werden Sakramente als Geschenk eines Gottesglaubens erlebt, der für das Leben und für das Mitleben stärkt, dann kann man erfahren, was die Kirche von ihren Sakramenten sagt, nämlich dass sie besondere Orte der Gnade, also der Anerkennung und der Wertschätzung, sind, die Gott gibt. Was bedeutet diese so verstandene Vorgegebenheit des liturgischen Rituals, die in besonderer Weise Ausdruck für die Vorgegebenheit eines Gottes ist, der Halt und Kraft gibt, für die Art und Weise, wie die Kirchen mit ihren Sakramenten umgehen? Wie kann darin erfahren werden, dass Gott die Menschen immer zuerst entlastet und beschenkt? So dass sie aus diesem Geschenk heraus leben können? In welchem Sinn sind die Sakramente gratis, aber nie umsonst, im Sinne von vergeblich, wertlos und wirkungslos?
Die Kirchen lernen ihre eigene Verantwortung neu kennen, wenn sie ihre Sakramente als Schatz betrachten und feiern. Es ist ein Schatz, den sie neu heben und weitergeben im Dienst an den Menschen, die sich nach einer guten Macht sehnen, die sie nicht selber herstellen können und müssen, sondern der sie sich verdanken und anvertrauen. Zur sozialen Verantwortung kirchlicher Diakonie und Caritas kommt die sakramentale Diakonie, in der Gottes Liebe (Caritas) für die Menschen erfahrbar ist. Weil diese Liebe bedingungslos ist, dürfen die Sakramente nicht mit Bedingungen belastet werden, die ihrem Wesen widersprechen. Sakramente sind keine Herrschaftsmittel, sondern vermitteln Gottes unerschöpfliche Gnade, nicht lax, sondern loslassend, nicht rigoros, sondern befreiend, nicht festhaltend, sondern mitgehend und mittragend.
1.2. Wiederbelebung der Rituale
Schon seit geraumer Zeit hat man die Rituale wiederentdeckt, in den Kirchen und in vielen Bereichen der Medien und der Unterhaltungsbranche: in den Ritualen des Sportes, den Versatzstücken von christlichen Ritualen in Film, Werbeindustrie und Musikclips, aber auch in den öffentlichen Veranstaltungen der Politik und der Vereine. In diesem Übergang von sichtbarer zu unsichtbarer Religion 8werden bisherige Rituale und Ritualversatzstücke ihrer angestammten religiösen Gemeinschaft entzogen und ohne deren Vermittlung und ihre Vermittlungsspezialisten (z. B. Pfarrer) unmittelbar beansprucht und verwertet:
– Je mehr unserer Gesellschaft eine tiefgreifende Unübersichtlichkeit bescheinigt und angelastet wird,
– je mehr sie Menschen auf sich selber stellt und in der Wahlfreiheit bei gleichzeitigem Ressourcenentzug überfordert,
– je mehr die Sozialformen auf der mittleren Ebene versteppen (wie etwa traditionelle Vereine),
desto mehr scheint es wieder so etwas wie eine Renaissance des persönlichen wie auch Massen-Rituals zu geben. Im Ritual kann man sich mit jener Sehnsucht nach Sicherheit und Anerkennung festmachen, die es ansonsten im beruflichen und zwischenmenschlichen Bereich zu wenig g ibt.
Folgende Dynamik ist dabei feststellbar: „Wenn die Antworten nicht objektiv, durch seine Gesellschaft gegeben werden, muss er (der Mensch, O. F.) sich nach innen wenden, zu seiner Subjektivität, um von dort an Sicherheit heraufzuholen, was immer er erreichen kann.“ 9Nun scheint das Stadium erreicht zu sein, wo auch die eigene Subjektivität derart als fragil und gefährdet erlebt wird, dass sie gar keine Sicherheit zu geben vermag. Menschen suchen nun von Neuem nach einer objektiven Sicherheit außerhalb ihrer selbst, sie finden sie nicht mehr in bergenden Traditionen und Gemeinschaften und entdecken deshalb die angesprochene Sicherheit zunehmend im auch von Traditionen und Gemeinschaften abgelösten Ritual (z. B. den genannten Ritualen in Sport und Medien) verschiedenster Art. Rituale in allen Bereichen von Gesellschaft und Kirche bieten sich hier als „Halterungen“ an, an denen man sich festhalten kann. Können die Kirchen auf diesem neuen zerstückelten Niveau der Ritualanfragen konstruktiv reagieren? 10Schon von daher wäre es widersinnig, innerkirchlich Rituale zu vernachlässigen oder gar abzubauen.
Schon vor mehr als 30 Jahren wurde dem Zweiten Vatikanum vorgeworfen, 11dass es das Geheimnis der Religion, wie es im Symbol aufscheint, durch Rationalisierung und Verständlichkeitswut aufgehoben habe. 12Die Verständlichkeit von Ritualen, wenn man sie glasklar durchsichtig machen will, hat ihre Ambivalenz, weil etwas, was ich gänzlich durchschaut habe, immer zugleich etwas ist, was ich durch eigene Rationalität begriffen und geleistet habe. Das widerspricht aber dem Charakter der Sakramente. Selbstverständlich sei nichts gegen die Erklärung von Symbolen gesagt. Man muss nur gewärtig haben, zu welcher Zeit dies geschieht und mit welchem dahinterliegenden Anspruch. Will man die Erfahrung des Geheimnisses der Gnade Gottes und die Erklärung der Sakramente nicht gegeneinander ausspielen, dann ist dies eine Frage der Katechese und Verkündigung, die außerhalb bzw. neben den Symbolhandlungen erklärt und die Symbolhandlung wirken lässt und nicht unmittelbar auch erklärt. So ist es nicht nur möglich, sondern auch immer wieder nötig, etwa in einer Predigt über die Bedeutung christlicher Sakramente und Symbole zu sprechen, was zugleich davor bewahrt, dies im Vollzug der Symbole tun zu müssen.
Problematisch sind jedenfalls die Glättung und Angleichung des überkommenen Rituals an jeweils gegenwärtige Verständlichkeiten, so dass es immer glatter wird und um die Kanten der Unverständlichkeit und um die Ecken des Geheimnisses gebracht wird. Was mich dann am Ritual trägt, ist mein eigenes Fassungsvermögen von ihm und die insgeheime Bedingung, dass es nur trägt, wenn es verstanden werden kann. Aber man darf auch mit einer Erlebbarkeit von Symbolhandlungen und Symbolen rechnen, die über das Verstehen hinausgeht und durch dieses nicht einholbar ist, die aber gleichwohl intensiv ist im Sinne von geschenkter Sicherheit in der Anerkennung der Existenz und im Zuspruch eines vorgängigen Getragenseins. Die Symbolhandlungen haben einen Überhang an Vorgegebenheit, der Zugriffen verschiedenster Art nicht zugänglich ist.
Was die kirchliche Sakramententheologie verdeutlicht, nämlich dass das Sakrament aus seinem Vollzug heraus wirkt und dass diese Wirkung von keiner Leistung oder Bedingung abhängig ist, kann als Einspruch gegen allzu glatte Verhältnisbestimmungen von Liturgie und Teilnahmeleistungen (des Verstehens bzw. Erfahrens) ernst genommen werden.
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