Ein Beispiel für so einen Prozess bietet der Psalm 22. Er ruft nach einer langen Klage zum Lob Gottes auf, obwohl sich die Situation des Leidens noch nicht verändert hat. Verändert hat sich aber das Gottesverhältnis, insofern Gott nun als der erlebt wird, der nicht nur dem Menschen, dem es gut geht, sondern auch dem, dem es schlecht geht, nahe ist. Hier ereignet sich die Transformation von der Wohlergehensreligion zu einem Vertrauen, das weder den Menschen noch Gott unter solche Wenn-dann-Bedingungen stellt. Israel stößt zu dieser Gottesbeziehung im persönlichen Gebet des einzelnen Menschen (hinsichtlich seiner Leidenserfahrungen) und kollektiv in den Erfahrungen des Volkes im Exil vor. Die Rettung ist zwar noch nicht sichtbar, aber in Gott für die Zukunft beschlossen.
Auch die Eucharistie hat diese endzeitlich-gegenfaktische Struktur: Sie vergegenwärtigt nicht nur die Erinnerung an die MählerJesu und an das letzte Abendmahl, sondern sie weist auch in die Zukunft und vergegenwärtigt von der Zukunft her das himmlische Hochzeitsmahl. Denn die christliche Erinnerung ist immer zugleich eine Verheißung und macht nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die erhoffte Zukunft gegenwärtig. Auch diese Zukunft ist im Ritual als Gnade vor-gegeben. So spiegelt sich die Transzendenz Gottes in der zeitlichen Transzendenz, im Überstieg zur Vergangenheit wie auch im Überstieg zur Zukunft. Für diese eschatologische Dimension der Eucharistie gilt näherhin, dass sie beides beinhaltet, nämlich die Erinnerung und geglaubte Rettung der Opfer (in der Erinnerung an Tod und Auferstehung Jesu) wie aber auch die dadurch erreichte Versöhnung der Sünder und Sünderinnen, also der Täter (siehe unten im Kapitel Eucharistie: Opfergedächtnis und Versöhnung vom Kreuz her).
Analog dazu kann man auch die christlichen Kasualrituale ansehen, insofern eine größere Anzahl derer, die sie beanspruchen, eher distanziert das Ritual suchen als die damit verbundene Glaubens- und Gemeinschaftserfahrung. Natürlich bleibt die Chance offen, dass die Betreffenden sich für die dahinterliegenden Wirklichkeiten öffnen. Aus diakonischer Perspektive sind die Kasualrituale jedenfalls in Bezug auf die sog. Fernstehenden ein Dienst daran, dass diese in unsicheren Übergangszeiten ein ihnen vorgegebenes Ritual erhalten, in dem sie diese Passage ihres Leben anfanghaft für die Transzendenz, also auf das hin, was sie nicht selbst sind und haben und was sie an „Größe“ übersteigt, öffnen und derart aushalten und bewältigen können. Von daher ist die Sakramentenpastoral nicht als ein Ausverkauf der Sakramente zu verdächtigen, sondern kann als ein bezüglich der Institution der Kirche absichtsarmes Unternehmen „ritueller Diakonie“ im Dienst an den Menschen angesehen werden, verbunden mit der Hoffnung, dass diese Gegebenheit auch einmal das bewirkt, was sie symbolisiert. Nur: Kalkulieren kann man damit nicht. Ob ein biographisches Passagenritual auch zur Passage in die Erfahrungen und Gemeinschaft des Glaubens wird, ist nicht zu erzwingen, sondern nur zu ermöglichen und zu erhoffen.
2.2. Erfahrung jenseits der Erfahrung
Was eben zum eher negativen Verhältnis von Ritual und Erfahrung formuliert wurde, gewinnt insbesondere im jüdischen Bereich im Anschluss an die Katastrophe von Auschwitz eine erschütternde Radikalisierung, nämlich dass das Ritual (z. B. des Paschamahls) auch gegen die Erfahrung Gottes, nämlich angesichts seiner im Stich lassenden Abwesenheit, aufrechterhalten wird. Elie Wiesel hat diesen Zusammenhang immer und immer wieder erzählt und in seiner Dichtung aufgegriffen. Er nimmt damit die kühne jüdische Tradition auf, nämlich zu Gott nein zu sagen, ihn anzuklagen, und zwar um der Menschen willen. Im Prozess von Schamgorod 28bringt Elie Wiesel diesen Zusammenhang in das Drama, dass Gott für das unendliche Leid schuldig gesprochen und verurteilt wird, und unmittelbar im Anschluss daran ruft der Rabbi zum Gebet auf, zum Schema Israel, also dazu, sich in das alte Ritual dieses Gebetes zur Anerkennung Gottes im Lobpreis einzubringen, und so auch nicht aufzuhören, das Paschamahl zu feiern. Denn verstanden werden kann von diesem sich verbergenden Gott nichts mehr. Übrig bleibt ein Trotzdem: sich trotzdem in die vorgegebenen Formen der Gottesbeziehungen hineinzubegeben. Auch dies ist eine Erfahrung, eine Erfahrung allerdings, die auch das Un-Erfahrene an Gottes Anwesenheit nicht ausgrenzt.
Das Ritual ist also nicht nur verdichteter Ausdruck menschlicher Erfahrung, sondern kann Letzterer auch gegenüberstehen und so eine Wirklichkeit repräsentieren, die zur Erfahrung unzureichend oder gegenläufig ist. Die Liturgie hat in solchen Zusammenhängen eine Stellvertretungsaufgabe, indem sie in der Sicherung des Rituals jene Wirklichkeit vergegenwärtigt, die auch gegen den Augenschein gilt und Wirklichkeit ist. „Es betet“ weiter, obwohl der Mensch aus seiner Situation heraus nicht mehr beten kann. 29
Derart macht das Ritual jene Stellvertretung erfahrbar, die christologisch, durch die Stellvertretung des Geistes Christi „für uns“ (vgl. Röm 8,26), ermöglicht ist. 30Das Ritual realisiert das Gotteslob, nämlich Gott größer als alles andere sein zu lassen, gegen den Augenschein auch dann noch, wenn in der „direkten“ Kommunikation mit Gott nicht mehr viel erlebt werden kann. 31Im Ritual ist die Gnade noch vor der Erfahrung präsent, auch unabhängig zu ihr, um in dieser Vorgegebenheit gerade als solche erfahren werden zu können.
Bei Wiesel zeigt sich die überkommene Symbolhandlung als die Möglichkeit, die Paradoxie des Glaubens zu leben und auszuhalten, die Paradoxie, die darin besteht, Gott angesichts des Leidens der Menschen eigentlich die Beziehung aufkündigen zu wollen und zu müssen, dies aber letztlich dann doch nicht zu können und zu wollen. Hier zeigt sich eine Spiritualität, die die Beziehung zu Gott in der Schwebe zwischen radikaler Infragestellung und Anbetung lässt und Letztere in der Treue zum Ritual und damit in der Solidarität mit dem eigenen Volk vollzieht. Die Unsicherheit in der Gottesfrage verbindet sich hier eigenartig mit einem regelmäßigen Ritual in Solidarität mit Israel und letztlich dann doch mit seinem Glauben. Unvergleichbar damit und doch in vorsichtiger Analogie dazu könnte im christlichen Bereich in der Treue zur sonntäglichen Eucharistie, auch wenn die Gotteserfahrung nicht mithält, gleichwohl die Solidarität zu den vor allem weltweit verfolgten Mitchristen und Mitchristinnen zum Ausdruck kommen.
2.3. Programmatische Erfahrung eines Vergessenen
Es geht heute vielen, vor allem auch älteren Menschen ähnlich, wie es der „Nachkriegsdichter“ Reinhold Schneider hinsichtlich seines Hinausgleitens aus dem Glaubensbereich wahrnimmt. In seinem Buch „Winter in Wien“ formuliert er: „Ich fühle mich aus dieser Wirklichkeit, diesem Wahrheitsbereich gleiten, ohne Einwand, immer in Verehrung und Dankbarkeit, ohne jegliche Rebellion, … gezogen von meinem Daseinsgewicht, mit geschlossenen Augen, verschlossenem Mund.“ 32Und: „Fest überzeugt von der göttlichen Stiftung und ihrer bis zum Ende der Geschichte währenden Dauer, ziehe ich mich doch lieber in die Krypta zurück; ich höre den fernen Gesang. Ich weiß, dass er auferstanden ist; aber meine Lebenskraft ist so sehr gesunken, dass sie über das Grab nicht hinauszugreifen, sich über den Tod hinweg nicht zu sehnen und zu fürchten vermag!“ 33
Reinhold Schneider weiß sich gerade mit seinem Zweifel und mit dieser Todmüdigkeit selbst im Raum des Gebets und der Kirche. So schreibt er: „Aber erst Papst Gregor an der Kanzel des Stephansdoms, der die Hostie zweifelnd in den Händen hält, und Hieronymus, der tote Kardinal, treffen mich ins Herz. Sie sind beherbergt im heiligen Raum. Es müssen Tod und Zweifel in der Kirche sein. Vor ihren Mauern bedeuten sie wenig, sind sie überall, aber hier! Welche Konzeption der Kirche, die Raum für solche Schmerzen, solche Haltungen hat!“ 34Und so schreibt er: „Beten über den Glauben hinaus, gegen den Glauben, gegen den Unglauben, gegen sich selbst, einen jeden Tag den verstohlenen Gang des schlechten Gewissens zur Kirche – wider sich selbst und wider eigenen Wissens –: solange dieses Muss empfunden wird, ist Gnade da: es gibt einen Unglauben, der in der Gnadenordnung steht. Es ist der Eingang in Jesu Christi kosmische und geschichtliche Verlassenheit, vielleicht sogar ein Anteil an ihr; der Ort vor dem Unüberwindlichen in der unüberwindlichen Nacht. Ist diese Erfahrung aus der Verzweiflung an Kosmos und Geschichte, die Verzweiflung vor dem Kreuz, das Christentum heute?“ 35
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