Auf seinem Weg zeigt Jesus, wie nahe Gott immer schon ist – gerade denen, die es am wenigsten vermuten. „Vater“ und „Sohn“ sind klar unterschieden; aber Matthäus betont, dass in Jesus – nicht erst durch den Auferstandenen, sondern bereits durch den Irdischen – Gott selbst handelt. Dafür steht das Immanuel-Motiv (Mt 1,23; 18,20; 28,20). Es verankert die matthäische Christologie biblisch-theologisch. Über das Immanuel-Motiv erschließt der Evangelist Matthäus den Weg Jesu als den Weg Gottes zu den Menschen. Dieser Weg ist ein Heilsweg, weil Gottes Wille Heilswille ist. Jesus macht sich auf seinem Weg nach Matthäus nicht von der Zustimmung der Menschen abhängig, zielt aber auf sie. Dass Jesus – als Immanuel – Menschen in seine Nachfolge beruft, hat den Sinn, dass sie an seiner Sendung teilhaben und den Heilsweg Gottes mitgehen. Sie werden als Sünder berufen, sie bedürfen der Umkehr und Vergebung, sie stehen auch als Gesandte, Lehrer und Mittler unter dem Gericht Gottes. Aber sie sind beauftragt und bevollmächtigt, Menschen zu Gott zu führen, damit diese ihren Weg mit Gott gehen können. Deshalb werden sie von Jesus mit auf seinen Weg genommen, so dass sie ihn selbst gehen können – in seiner Nachfolge.
Dadurch, dass Matthäus den Weg Gottes mit den Menschen in der Geschichte Jesu als Heilsweg fokussiert, wird das Evangelium, die erzählte Geschichte Jesu, zur narrativen Christologie und Ekklesiologie. Jesus geht nach Matthäus als Immanuel den „Weg der Gerechtigkeit“ (Mt 21,32), der ihn ins Leiden führt, aber im Tod seine universale Heilsbedeutung kulminieren lässt; die Jünger sollen Jesus auf diesem Weg folgen und nach Ostern für ihren Herrn diesen Weg der Nachfolge allen Menschen aufzeigen. Durch das Wegmotiv kommt nicht nur die Dynamik des Heilswillens Gottes zum Ausdruck, sondern auch sein Prozesscharakter: dass schon hier und jetzt, unterwegs, nicht erst am Ziel, Entscheidendes geschieht und angestoßen wird, damit es sich entwickeln kann. Dadurch, dass Matthäus durch die Immanuel-Christologie den Gottesglauben mit der Heilserwartung Israels verknüpft, konkretisiert er den universalen Heilswillen Gottes in der Geschichte Jesu, die ihrerseits in die Heilsgeschichte Israels und ihre – von Matthäus betonte – genuine Universalität hineingehört. Gottes heilende Zuwendung wird also in der Verbindung zwischen Jesus und seinen Jüngern vergegenwärtigt. Er geht den Weg, auf dem sie ihm nachfolgen sollen, damit sie nach Ostern in seiner Gegenwart als Erhöhte neue Wege gehen können; sie gehen in der Nachfolge Jesu so zu den Menschen, wie er sie gesandt hat, und führen deshalb alle, die sie zu Jüngern machen, in die Nachfolge ein, die als Heilsweg Gottes definitiv in Galiläa begonnen hat – im Raum der Verheißung Israels.
1.1 Die Problematik
1.1.1 Die leitende Frage
Damit der Weg Gottes als Weg Jesu und der Weg Jesu als Weg Gottes bei Matthäus herausgestellt werden kann, muss der theologische Anspruch des Matthäusevangeliums im Kommunikationsfeld der Erinnerung an Jesus und dem Bekenntnis zu ihm methodisch erschlossen und hermeneutisch reflektiert werden. Als Leitmotiv dient die ImmanuelVerheißung, die den irdischen Jesus und den erhöhten Herrn in einen inneren Zusammenhang stellt und mit den Verheißungen Israels verbindet (Mt 1,23; 28,20): Für Matthäus ist Jesus nicht nur der Irdische, sondern auch der Erhöhte. Er ist der messianische Gottessohn, der die Verheißung des rettenden Beistandes Gottes erfüllt. Nach der Auferweckung setzt er seine Allmacht ein (Mt 28,18-20), „nicht um die Menschen zu überwältigen, sondern um ihnen beizustehen“ 3. Die durch die Propheten zugesprochene Heilstreue Gottes beginnt sich mit der Geburt Jesu eschatologisch zu erfüllen (Mt 1,18-25) und verwirklicht sich mit seiner Sendung, die in seinem Tod kulminiert und durch seine Auferstehung eschatologisch transformiert wird.
Weil Matthäus den Weg Jesu als den Heilsweg Gottes erschließt, stellt sich die Frage der Kommunikation: Wie kann auf dem Weg Jesu das Heil Gottes diejenigen erreichen, die gerettet werden sollen? Die Frage stellt sich nicht nur im Rückblick auf die Geschichte Jesu, sondern auch im Blick auf die Gemeinde des Matthäus und im Ausblick auf die Zeiten bis zur Vollendung. Deshalb ist nicht nur die Erinnerung an das Wirken und Leiden Jesu wesentlich, an die Art und Weise, wie er das Evangelium verkündet und geradezu verkörpert hat, es ist vielmehr auch wesentlich, wie er nach Matthäus die Distanzen in Raum und Zeit überwindet, die sich notwendigerweise in der Spannung zwischen dem Einen, den Gott gesandt hat, und den Vielen, die er retten will, auftun. Das entscheidende Mittel, das Jesus nach Matthäus wählt, ist die Sendung seiner Jünger. Vorösterlich weitet er durch sie seine Präsenz in Israel aus (Mt 10), nachösterlich für alle Zeit auf alle Völker (Mt 28,16-20). „Die Jünger erfahren den Beistand des allmächtigen Gottes in der Person Jesu Christi nicht so, dass ihre eigene[n] Allmachtsphantasien beflügelt, sondern so, dass sie auf den Weg der Nachfolge geführt werden: wenn sie das Vaterunser beten; wenn sie sich, und seien es nur zwei oder drei, im Namen Jesu versammeln (Mt 18,20); wenn sie sich um die Armen kümmern, mit denen Jesus sich identifiziert (Mt 25,31-46).“ 4Die Jünger leben nach Matthäus allezeit von der Immanuel-Verheißung; sie tragen sie weiter, indem sie dem Nachfolgeruf Jesu folgen und durch ihre Sendung ihn als Heiland verkündigen und repräsentieren. In unbedingter Bindung an die Person und die Lehre Jesu erlangen die Jünger die „überfließende Gerechtigkeit“ (Mt 5,20) und realisieren die rettende Gegenwart Gottes. Im Rahmen ihrer Kräfte prägen sie „Modelle gelebten Glaubens für alle Zeiten“ 5, sie bilden die „Kirche“, die von Jesus auf dem Felsen Petrus gebaut ist (Mt 16,18). Für das Matthäusevangelium sind die Christologie des Immanuel und die Ekklesiologie der Nachfolge konstitutiv. Die vorliegende Arbeit ist auf die Dynamik der Verhältnisbestimmung zwischen Jesus und seinen Jüngern fokussiert, wie sie im Evangelium nach Matthäus erzählt wird, hat aber die Gegenwart der matthäischen Gemeinde im Blick, die zur Wirkungsgeschichte dessen gehört, was Matthäus in seinem „Buch“ (Mt 1,1) beschreibt, und sich deshalb kritisch und konstruktiv auf diesen Anfang beziehen muss, um ihre Sendung zu entdecken.
Zu untersuchen ist deshalb, wie Matthäus Christologie und Ekklesiologie, basaler: die Sendung Jesu und die seiner Jünger unter dem Aspekt verbindet, die Gegenwart der Kirche mit der Verheißung und dem Anspruch Jesu zu konfrontieren. Die entscheidende Verbindung ist jene, mit der Matthäus den Weg Jesu als Weg Gottes zum Heil Israels und der Völker darstellt. Es ist ein Weg; deshalb ist Nachfolge wesentlich. Es ist ein Heilsweg; deshalb ist die Teilhabe der Jünger an der Heilssendung Jesu entscheidend. Es ist der Weg Jesu selbst; deshalb ist das Wirken Jesu durch seine Jünger der Schlüssel.
Dieses Wirken Jesu durch seine Jünger ist im Matthäusevangelium nicht nur instrumentell, so als ob die Jünger nur Mittel zum Zweck wären; der Ruf in die Nachfolge ist vielmehr selbst der intensivste Ausdruck gerade jener Gottesverkündigung, mit der Jesus das Heil Gottes nahebringt. Die Jünger sind auf dieses Wort der Erwählung und Sendung angewiesen, weil sie sich nicht selbst senden und erlösen können, sondern der Bevollmächtigung und der Vergebung bedürfen. Jesus seinerseits geht über die Jünger mit ihren Fragen und Schwächen, Hoffnungen und Erfahrungen nicht hinweg, weil er in seiner Sendung gerade die Armen seligpreist (Mt 5,3-12).
Matthäus hat die Beziehung Jesu zu seinen Jüngern und der Jünger zu ihm genau gestaltet, intensiver als Markus, von dessen Evangelium er ausgeht. Auf der einen Seite hat er die Vollmachtschristologie durch das Immanuel-Motiv in einer Weise weiterentwickelt, dass die bleibende Gegenwart Jesu im Jüngerkreis theologisch gedacht werden kann. Auf der anderen Seite hat er die Beziehung der Jünger zu Jesus in größerer Differenziertheit und Farbigkeit als Markus gestaltet; im Spannungsfeld von Kleinglaube und Nachfolgebereitschaft zeichnet sich ab, wie die Jünger bleibend auf Jesus angewiesen sind, aber gerade deshalb Jesu Heilssendung weiterführen können.
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