2Makk 2,13–15 (1. Jh. v. Chr.) erzählt, dass Nehemia in Jerusalem eine Bibliothek angelegt und die Bücher über die Könige und Propheten sowie Briefe der Könige und Weihgeschenke gesammelt habe. Diese Sammlung sei von Judas Makkabäus nach dem makkabäischen Aufstand wieder vervollständigt worden. Die Vermutung, dass es sich hier um die Bibliothek des Jerusalemer Tempels gehandelt habe, legt sich nahe. 65Von dieser Bibliothek ist jedoch ansonsten nichts bekannt, die Nennung des Nehemia könnte zudem ein Topos sein, der sich auf dessen im Nehemiabuch genannte Restaurierungsmaßnahmen bezieht. Die Funde von Qumran zeigen jedoch, dass es solche Bibliotheken, zumindest in der Zeit der Makkabäer, wirklich gegeben hat.
Weitere Texte, die biblische Textsammlungen, Kanonteile und deren Wertschätzung nennen, sind Philon, De vita contemplativa 25; Lk 24,44; Mt 23,35; 4Esr 14,23–48 sowie Josephus, Contra Apionem 1,37–43. Besonders der letztgenannte Text aus dem späten 1. Jh. n. Chr., also deutlich jünger als die Zeugnisse von Qumran oder der Aristeasbrief, nennt eine klar umrissene Sammlung, die zweiundzwanzig heilige Bücher enthalten habe: die fünf Bücher Mose, dreizehn prophetische Bücher sowie vier weitere Bücher, die Lobgesänge und Vorschriften enthielten. U. a. James C. VanderKam vermutet, dass es sich neben dem Pentateuch um folgende Bücher gehandelt habe: Josua, Richter, 1/2Samuel, 1/2 Könige, Esra/Nehemia (ein Buch), Ester, Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Daniel und die zwölf Propheten (ein Buch). Die vier weiteren Bücher könnten die Psalmen und Sprüche sowie Hiob und Kohelet gewesen sein. 66Damit würde Flavius Josephus eine Sammlung an Büchern im Sinn gehabt haben, die schon sehr nahe an diejenige heranreicht, die im Judentum und Christentum später als endgültig angesehen wurde.
8. Die Sammlungen des jüdischen und des christlichen Bibelkanons
Es kann nach dem Gesagten also davon ausgegangen werden, dass in der Zeit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 n. Chr., also bereits vor der Zeit des Lehrhauses in Jabne, ein jüdischer Bibelkanon vorlag, der große Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, den der Babylonische Talmud ( Baba batra 14b–15a) feststellt und der auch den großen masoretischen Textausgaben wie dem Kodex Aleppo (frühes 10. Jh. n. Chr.) oder dem Kodex Leningradensis (frühes 11. Jh. n. Chr.) prinzipiell zugrunde liegt. Die masoretische Arbeit am tradierten Text zeigt dabei, dass es den Gelehrten darauf ankam, das Gesamt des für das Judentum verbindlichen dreiteiligen Kanons heiliger Schriften möglichst akkurat zu erfassen und zu sichern.
Da das Neue Testament auf Griechisch abgefasst ist, sind auch die Zitate »gemäß der Schrift« der Septuaginta entnommen, so dass für das frühe Christentum nur deren Überlieferung als Quelle der Lehre dienen konnte. Die Benutzung der Septuaginta im Neuen Testament zeigt, dass es bereits Rezensionen der griechischen Übersetzung auf Grundlage des hebräischen Textes gab. Die rezensionelle Tätigkeit spielte im frühen Christentum auch aufgrund der Diskussion mit dem Judentum eine wichtige Rolle und zeigt sich beispielsweise in der Hexapla des Origenes, der in sechs synoptischen Spalten versuchte, den hebräischen Bibeltext und seine Übersetzungen möglichst genau zu dokumentieren. Die ältesten, aus dem 4.–5. Jh. n. Chr. stammenden Kodizes der Septuaginta, Vaticanus, Alexandrinus und Sinaiticus, sind bereits christliche Bibeln, die die beiden Kanonteile des Alten und Neuen Testaments enthalten. Dabei fällt ins Gewicht, dass die Reihenfolge der alttestamentlichen Bücher abweicht. 67Bereits Hieronymus mahnte aber an, dass man zwischen den Büchern des hebräischen und griechischen Kanons unterscheiden müsse, worin ihm beispielsweise Erasmus und Luther folgten, 68während die römisch-katholische Tradition auf dem Konzil von Trient (IV sessio ) die lateinische Vulgata des Hieronymus, die die Apokryphen ebenfalls bietet, insgesamt als verbindliche Bibelausgabe ( scriptura ) festlegte und als Quelle der christlichen Lehre neben die kirchliche Überlieferung, die traditio , stellte.
Hinsichtlich der beschriebenen Kanonbildung ergibt sich zweierlei: Erstens: Die Hebräische Bibel bietet Traditionsliteratur, vergleichbar derjenigen des Alten Orients. Redaktoren sammelten, edierten und tradierten ihnen vorliegende Schriften im Rahmen ihrer gelehrten Tätigkeit, die durch bestimmte Aufgabenstellungen (Ausbildung, Kult, Recht, Expertise für Herrscher) geprägt gewesen sein dürfte. Hierüber ist historisch für das Alte Israel nicht viel bekannt. In jedem Fall zeigt bereits die Überlieferung selbst eine hohe Wertschätzung von Tradition, wie z. B. die Doppelüberlieferungen der Flutgeschichte in Gen 6–8 oder des Exodusgeschehens in Ex 14 belegen. Die Erzählstränge werden kombiniert und nicht elidiert. Analoges dürfte für die anderen beiden Kanonteile gelten, wobei auch »innerbiblische« Diskurse zu beobachten sind. Die »externe Evidenz« weist jedoch aus, dass nachmals biblische Texte außerhalb der sie tradierenden Kreise kaum wahrgenommen wurden. Erst mit der hasmonäischen Zeit und der Auseinandersetzung mit dem Hellenismus gewann die biblische Tradition, vor allem die Tora, eine signifikante Bedeutung, wie auch parabiblische Texte aus Qumran zeigen.
Zweitens: Neben das Phänomen der Textpflege und Überlieferung, wie es auch im Alten Ägypten und Alten Orient begegnet, tritt seit der hellenistischen Zeit zunehmend dasjenige der Verbindlichkeit bzw. Autorität des überlieferten Textes nach außen: Ausgehend vom Buch Deuteronomium und seinen Kolophonen in Dtn 31 konnte die Wirkung der Tora in 2Kön 22; Esr 7 und dem Aristeasbrief nachgezeichnet werden. In allen Fällen wird die Schrift durch ihre äußere Anerkennung oder Ratifizierung als verbindlich angesehen. Alle drei Texte sind zumindest teilweise legendarisch und spiegeln weniger eine tatsächliche Einführung der Tora als politisches Gesetz in Judäa und andernorts als vielmehr eine ganz andere Absicht. So kann in Esr 7 die Verbindung der Toratradition exklusiv mit Esra, der durch seine Abkunft, Bildung und das königliche Edikt aus Esr 7,12–26 entsprechend qualifiziert ist, ebenso als Abgrenzung gegenüber dem Gebrauch der Tora durch die Samaritaner verstanden werden wie die Scheidung der »Mischehen« in Esr 9–10. Insofern wird hier das von Ohme eingangs zitierte »normativ Unterscheidende« als Kriterium deutlich. Insbesondere die späteren parabiblischen Texte aus Qumran zeigen diese Qualität von Kanon nachdrücklich auf.
Kanonbildung weist damit sowohl nach »innen« auf die schriftgelehrten literarischen Prozesse inklusive unterschiedlicher Lehrmeinungen als auch nach »außen« auf die Strategien der Abgrenzung und der Identitätssicherung, die das Judentum in der Auseinandersetzung mit den Samaritanern, in unterschiedlichen Begegnungen mit dem Hellenismus in Judäa und Alexandria, in der Beschäftigung mit den Zerstörungen des Tempels und der Abgrenzung vom Christentum über lange Zeit prägte.
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