Die Hebräische Bibel ist also dort, wo es durch schriftgelehrte Arbeit geprägt ist, weniger als ein textliches Mosaik unterschiedlicher Zitationen zu interpretieren, sondern vielmehr als ein Werk von Schriftgelehrten, das aus kombinatorischen Exegesen von Texten und Themen resultiert, die über die Erinnerung seiner Schreiber vermittelt sind. Im Blick auf die Vollzüge exegetischer Arbeit wird man sich also hüten müssen, sich aufgrund moderner Rekonstruktionsmittel zu Schlüssen verleiten zu lassen, die den kulturgeschichtlichen Gegebenheiten der antiken Welt nicht entsprechen.
Die literatursoziologischen Rahmenbedingungen der Entstehung der biblischen Literatur werden seit längerer Zeit kontrovers diskutiert. Dabei ist der Umstand zu berücksichtigen, dass es im bronzezeitlichen Kanaan zweifellos Schrift, Schreiber und Schulen gegeben haben muss. Das wohl eindrücklichste Beispiel ist die Amarnakorrespondenz, die der Jerusalemer Stadtkönig Abdi-Ḥepa mit dem Pharao Echnaton führte und deren Erzeugnisse in dessen Residenz Tel el-Amarna gefunden worden sind. Aber es sind auch weitere Schriftzeugnisse erhalten geblieben, die funktionierende Schreiberschulen in Kanaan voraussetzen. Besondere Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren ein 2005 entdecktes Abecedarium aus Tel Zayit auf sich gezogen, das aus dem 10. Jh. v. Chr. stammt, woraus manche Forscher weitreichende Folgerungen für das Vorhandensein eines frühen Staates bzw. einer damals schon sehr ausgeprägten Schriftkultur gezogen haben, was allerdings umstritten geblieben ist. Allerdings deutet der epigraphische Befund aus dem königszeitlichen Israel bezüglich Schrift und Orthographie aufgrund deren vergleichsweise hohen Standardisierungsgrads mit hinreichender Sicherheit darauf hin, dass es entsprechende Ausbildungsorte – »Schulen« – gegeben hat, in der die Schreiber diesbezüglich trainiert worden sind. Anders sind solche Standardisierungen nicht erklärbar.
Wie man sich solche »Schulen« vorzustellen hat, ist allerdings unklar. In der Bibel werden sie nur in Sir 51,23 und Apg 19,9 erwähnt. Der Stand des Schreibers ist sowohl epigraphisch wie auch biblisch gut bezeugt (vgl. z. B. 2Sam 8,17; 1Kön 4,3; Jer 32; 36; 43; 45; Esr 7,6.12–26; Neh 13,12f.; Sir 38f.). Die Bezeichnungen »Schreiber des Königs« bzw. »königlicher Schreiber« (2Kön 12,11; 2Chr 24,11, vgl. Est 3,12; 8,9) weisen darauf hin, dass eine solche Ausbildung wohl zunächst am königlichen Palast angesiedelt war, an dem es laut Jer 36,12 auch eine »Schreiberkammer« gab. Auch militärische Belange sind von Schreibern dokumentiert worden, wie es das Amt eines »Schreibers des Heerführers« (2Kön 25,19; Jer 52,25) belegt. In der Perserzeit dürfte die Schreiberausbildung dann v. a. am Jerusalemer Tempel stattgefunden haben, der aber wohl bereits in der Königszeit auch Schreiber vor allem zur Pflege der religiösen Texte trainiert haben dürfte.
3. Die Hebräische Bibel als Ausschnitt der Literatur des antiken Israel und Juda
Im Falle der Hebräischen Bibel, die aufgrund ihres besonderen wirkungsgeschichtlichen Status als Heilige Schrift des Judentums, und gemeinsam mit dem Neuen Testament auch des Christentums, beinahe die gesamte uns bekannte Literatur des antiken Israel enthält, stellt sich die Frage, wie sich dieses Literaturkorpus zum Textgut verhält, das es sonst noch im antiken Israel gegeben haben mag. Die Frage, ob es Nichtvorhandenes nie gegeben hat oder ob es verloren gegangen ist, lässt sich naturgemäß nicht einfach beantworten. Im Bereich des antiken Israel sind aber doch immerhin einige Funde erhalten geblieben, 7von denen aufgrund des Umstands, dass sich die üblichen Schriftträger – Leder und Papyrus – nicht sehr lange halten, mit Recht vermutet werden kann, dass sie nicht die komplette Restmenge der über die biblischen Schriften hinaus hergestellten Literatur des antiken Israel darstellen.
So kennt und nennt die Hebräische Bibel selbst einige Quellen, die jedenfalls nicht in ihrer Gesamtheit fiktiv sind: So werden etwa das »Buch der Kriege Jhwhs« (Num 21,14), das »Buch des Aufrechten« (Jos 10,13; 2Sam 1,18), das »Buch des Liedes« (1Kön 8,53a [LXX]), 8das »Buch der Geschichte Salomos« (1Kön 11,41), das »Buch der Geschichte der Könige von Israel« (1Kön 14,19) oder das »Buch der Geschichte der Könige von Juda« (1Kön 14,29) genannt.
Zusätzlich zu rechnen ist mit weiteren vorexilischen Überlieferungen, die v. a. nach der Katastrophe Jerusalems im Jahr 587 v. Chr. ausselektioniert worden sind. Besonders zu nennen sind hier heilsprophetische Überlieferungen, von denen nicht auszuschließen ist, dass sie ebenfalls schriftlich vorgelegen haben, wenn man nicht der strikten These zuneigen will, dass Schriftprophetie und Gerichtsprophetie koinzidieren. Die neuassyrischen Befunde zeigen jedenfalls, dass auch reine Heilsprophetie schriftlich aufgezeichnet werden konnte, auch wenn sich daraus keine Vorgänge der langzeitigen schriftgelehrten Tradentenprophetie wie in Israel ergaben.
Die Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel betrifft also einen zwar wichtigen, aber eben doch nur einen Ausschnitt der althebräischen Literaturgeschichte, die nur partiell erhalten geblieben ist. Die Ratio der Selektion ist nur wirkungsgeschichtlich erläuterbar: Die Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel behandelt diejenigen Texte, die sich als Gebrauchstexte in der Jerusalemer Tempelschule und nachher sowie deswegen als Heilige Schrift durchgesetzt haben.
Der kanonisch-wirkungsgeschichtlich verengte Blick auf die Literatur des antiken Judentums weitet sich durch die anders gelagerte Überlieferungssituation von der hellenistischen Zeit an. Die vom 3. Jh. v. Chr. an entstandene weitere Literatur, die keine Aufnahme in den hebräischen Bibelkanon gefunden hat, ist durch die Tradierung vor allem im Bereich einiger Ostkirchen erhalten geblieben. Darunter finden sich sehr umfangreiche Literaturwerke wie die Henochüberlieferung, das Jubiläenbuch und weitere Schriften, die von der enormen Breite des literarischen Wirkens und der theologischen Positionen im antiken Judentum zeugen.
4. Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Bis gegen Ende des 20. Jh.s herrschte in der Bibelwissenschaft die Auffassung vor, die Hebräische Bibel enthalte jedenfalls zu beträchtlichen Teilen vormals mündliches Textgut, das nun in schriftlich kodifizierter Form vorliege. Diese Gesamtperspektive brachte auch eine eigenständige Methode hervor: die formgeschichtliche Fragestellung, die im Bereich der Hebräischen Bibel v. a. mit dem Namen Hermann Gunkels verbunden ist. 9Sie geht davon aus, dass Texte bestimmten Gattungen folgen, die durch deren jeweiligen »Sitz im Leben« vorgegeben werden. Durch die formgeschichtliche Fragestellung – so war die Meinung – öffnet sich ein Fenster in die ursprüngliche Geistigkeit des Volkes Israel, die in dessen mündlicher Überlieferung ihren unmittelbarsten Ausdruck fand.
Namentlich in der Propheten- und Psalmenforschung sind in den letzten Jahrzehnten die Gewichte erheblich zurechtgerückt worden – mitunter sogar in zu starkem Maß. Das ins Feld geführte Argument, literarische Texte erkläre man am besten mit literarischen Mitteln, ist zwar auf den ersten Blick überzeugend, wird aber spätestens auf den zweiten Blick den historischen Wahrscheinlichkeiten nicht vollständig gerecht. Die Traditionskultur des antiken Israel und Juda war mündlich geprägt, entsprechend kann man davon ausgehen, dass die Texte der Hebräischen Bibel in einer Welt produziert und rezipiert worden sind, die im Wesentlichen durch mündliche Kommunikationsvorgänge geprägt war. Es besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass in der Tat manches spätere biblische Textgut in der einen oder anderen Form in mündlicher Überlieferung wurzelt, wobei bei dessen Analyse die Grenze zwischen formgeschichtlicher, überlieferungsgeschichtlicher und traditionsgeschichtlicher Fragestellung nicht immer klar zu ziehen ist. Beruhen die Texte auf entsprechenden Stoffen oder bilden sie bereits entsprechend mündlich geformte Einheiten ab? Es liegt auf der Hand, dass kürzere und durch sprachliche Mittel – etwa poetische Prägung – fixierte literarische Einheiten diesbezüglich als stabiler angesehen werden müssen als umfangreicheres und offener überliefertes Textgut. Jedenfalls wäre es ein Trugschluss sondergleichen zu meinen, die Exodusüberlieferung sei im Zuge ihrer erstmaligen literarischen Fixierung entstanden oder Ps 93 sei so alt wie seine erste Niederschrift. Dass der konkreten Rekonstruktion mündlicher Vorstufen enge Grenzen gesetzt sind, versteht sich dabei allerdings von selbst.
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