Die Prophetenbücher verfügen in der Regel – ähnlich wie das Dtn – über Überschriften, die den Inhalt des betreffenden Buches, nicht aber unbedingt seinen (ganzen) Text, mit einer bestimmten historischen Figur zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. in Verbindung bringen. Namentlich bei Jesaja und Jeremia ist deutlich, dass die in der 3. Person gehaltenen, erzählenden Stücke über den jeweiligen Propheten (Jes 36–39; Jer 26–28; 36–44) nicht durch die Überschriften Jes 1,1 und Jer 1,1 gedeckt sind. Im Rahmen der Erzählung Jer 36, die von der Herstellung einer zweiten Rolle mit Worten von Jeremia berichtet, nachdem der König Jojakim eine erste Rolle verbrannt hatte, findet sich bemerkenswerterweise ein explizites Zeugnis dafür, dass sich das Jeremiabuch in biblischer Eigenperspektive als ein Resultat mehrstufiger Fortschreibungstätigkeit präsentiert.
Und Jeremia nahm eine andere Rolle und gab sie Baruch, dem Sohn des Nerija, dem Schreiber, und nach dem Diktat Jeremias schrieb dieser darauf alle Worte der Schrift, die Jojakim, der König von Juda, im Feuer verbrannt hatte, und viele ähnliche Worte wurden ihnen hinzugefügt . (Jer 36,32)
Die passivische Formulierung schließt zwar nicht aus, dass diese »ähnlichen Worte« von Jeremia stammen, öffnet aber doch deutlich den Horizont auch für die Möglichkeit nachjeremianischer Fortschreibungen. Im Jeremiabuch kann man also nachlesen, dass dieses nicht von Jeremia allein stammt, sondern später in beträchtlichem Ausmaß weiter fortgeschrieben worden ist.
Im Bereich der Schriften werden Spr, Koh und Hld auf Salomo zurückgeführt (Spr 1,1; Hld 1,1 und – wenn auch in verdeckter Weise – Koh 1,1), nicht für den Gesamtpsalter, aber für zahlreiche Einzelpsalmen wird davidische Autorschaft insinuiert (vgl. Ps 3,1 u. ä.). Die weiteren Bücher innerhalb der Ketubim sind wiederum anonym.
Nimmt man diese Befunde zusammen, so scheinen vor allem Propheten als namentlich genannte Autoren biblischer Texte und Bücher in Frage zu kommen. Das gilt zunächst für die Schriftpropheten und ihre Bücher, dann aber auch für die mitunter als Propheten gezeichneten Gestalten Mose sowie David und Salomo. Entsprechend wird dann Flavius Josephus die Hebräische Bibel auf prophetische Verfasser zurückführen ( Contra Apionem I,8). Entscheidend ist aber, dass die Hebräische Bibel diesen »Propheten« unterschiedliche Wirkungsperioden zuweist und selbst ihre Schriften so als zeitgebunden ausweist. Gleichzeitig zeigt das Vorhandensein anonymer Bücher oder Passagen, dass die Tradenten der Hebräischen Bibel sich nicht zwangsläufig hinter prophetischen Gestalten der Gründerzeit verbergen müssen, sondern auch neutral in der Namenlosigkeit verbleiben können.
Wie in nahezu allen Bereichen der alttestamentlichen Wissenschaft sind historische und biblische Sicht auch im Blick auf die Literaturgeschichte nicht deckungsgleich. In historischer Sicht sind die biblischen Zuschreibungen sogleich zu relativieren. Im antiken Literaturbetrieb benennen sie in erster Linie die Autorität, unter der eine Überlieferung steht, und nicht den Autor, der sie geschrieben hat. Namentlich die »Mosaizität« von bestimmten Stücken der Hebräischen Bibel – der Dekalog konnte noch bis in die Mitte des 20. Jh.s auf Mose zurückgeführt werden – im Sinne moderner Autorschaft kann nur schon aufgrund allgemeiner kulturgeschichtlicher Überlegungen zum Literaturbetrieb des antiken Israel ausgeschlossen werden. Erst mit dem Erreichen eines bestimmten Grades von Staatlichkeit ist überhaupt damit zu rechnen, dass ausgedehntere Literaturwerke entstehen können – im Bereich von Juda und Israel ist das nicht vor dem 9. oder 8. Jh. v. Chr. der Fall. Erst von dieser Zeit an weist der inschriftliche Befund aus Israel und Juda überhaupt auf eine hinreichend entwickelte Schriftkultur hin. Entsprechend sind auch die »davidischen«, »salomonischen« oder »jesajanischen« Überlieferungen der Hebräischen Bibel zunächst Elemente der Welt der Erzähler und nicht der erzählten Welt. Ob man dann bestimmte Kerntexte etwa der Prophetenbücher den jeweils namengebenden Figuren zuweisen will, ist abhängig von den Grundannahmen, die man an die Entstehungsbedingungen der Literatur der Hebräischen Bibel heranträgt. Wie immer hier entschieden wird: Zu betonen bleibt in methodologischer Hinsicht, dass solche historische Zuweisungen aufgrund biblischer Selbstaussagen gegenüber deren Bestreitungen nicht a priori als »vorsichtiger« gelten können. Es handelt sich vielmehr um weitreichende Theorien, die ebenso begründungspflichtig sind wie diejenigen, die sich durch kritische Distanznahmen zum biblischen Zeugnis auszeichnen.
Die elementaren Rahmenbedingungen für eine Rekonstruktion der Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel sind dabei klarer, als es die verzweigten Forschungsdiskussionen zunächst vermuten lassen. Erstens: Die biblische Literatur ist über einen längeren Zeitraum durch schriftgelehrte Arbeit an ihr entstanden. Der Umstand, dass die Texte der Bibel auf längere Fortschreibungsprozesse zurückgehen, wird von ihr bisweilen auch explizit thematisiert (vgl. Jer 36,32). Aus altorientalischen Überlieferungsbefunden (z. B. Gilgamesch) 3und solchen aus Qumran (z. B. Gemeinderegel) 4, die unterschiedliche Entwicklungsphasen bestimmter Schriften empirisch bezeugen, sowie aus den Differenzen zwischen hebräischen und griechischen Fassungen mancher biblischer Bücher (besonders Samuel, Jeremia, Ezechiel), die ebenfalls in quasiempirischer Weise Textwachstum dokumentieren, ist erkennbar, dass dieser Modus der Literaturwerdung den damaligen Gepflogenheiten der Umwelt in wesentlichen Elementen entspricht. 5Zweitens: Entsprechend den kulturgeschichtlichen Wahrscheinlichkeiten hat man damit zu rechnen, dass verschiedene Partien der Hebräischen Bibel auf mündliche Vorstufen zurückgehen. Dieser Anteil ist geringer, als die klassische Forschung anzunehmen geneigt war (s. u.), aber größer, als einige neuere Beiträge suggerieren. Drittens: Die Schriftensammlung der Hebräischen Bibel ist im Wesentlichen ein Zeugnis des nachexilischen Judentums, das seine maßgeblichen Grundentscheidungen bezüglich Monotheismus, Bund und Gesetz gegenüber abweichenden älteren Traditionen privilegiert und diese so in die Heterodoxie entlassen hat. Entscheidende Formierungsphasen scheinen also in die persische und hellenistische Zeit zu gehören, was die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit früherer Texte nicht aus-, sondern einschließt. Viertens: Literaturgeschichte und Theologiegeschichte der Hebräischen Bibel überschneiden sich zwar teilweise, sind aber nicht deckungsgleich. Fünftens: Dasselbe gilt für das Verhältnis von Literaturgeschichte und Kanonsgeschichte. Auch sie berühren gemeinsame Felder, sind aber nicht identisch.
2. Die Schriftkultur im antiken Israel und Juda
Die Schriftkultur im antiken Israel und Juda ist Teil und Erbe des altorientalischen Schul- und Schreiberwesens. 6Die Schreiberausbildung in der antiken Welt war stark vom Studium der Klassiker geprägt und daraufhin ausgerichtet, dass deren Inhalte von den künftigen Angehörigen der Schreiberklasse memorisiert wurden. Die Textbeherrschung der Schreiber war also im Wesentlichen über deren Gedächtnis vermittelt. Zitate und Anspielungen konnten sie in der Regel aus ihrer Erinnerung abrufen. Für die historische Exegese der Hebräischen Bibel sind diese Überlegungen von erheblicher Bedeutung: Besonders in denjenigen Textbereichen, die durch Vorgänge innerbiblischer Schriftauslegung geprägt sind, wird man zurückhaltender als bisher sein müssen, wörtliche Berührungen zwischen verschiedenen Texten sogleich als »literarische Bezüge« einzustufen, die allein auf schriftlicher Ebene zu interpretieren sind. Selbstverständlich lassen sich solche Bezüge erkennen und natürlich sind sie von Belang für die Interpretation einer biblischen Schrift. Doch hat man sich ihre Entstehung wohl in einer Vielzahl von Fällen anders vorzustellen als dergestalt, dass der Autor des betreffenden Texts verschiedene biblische Schriftrollen vor sich gehabt hätte, aus denen er dann zitiert hätte. Vielmehr dürften ihm die der historischen Rekonstruktion als biblische Intertexte erschließbaren Bezugstellen in seinem Gedächtnis erinnerlich gewesen sein, die er dann verarbeitete.
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