Meines herzlichsten Dankes
von Ihrer ergebenen
L. W.» 103
Linas Absage, selbst wenn er sie erwartet hatte, ging Keller nahe. Voll Ironie beschrieb er einige Monate später der Sängerin Emilie Heim seine Verfassung: «Mir selber hat Gott Amohr [sic] wegen eines kleinen Schwabenmädgens noch einen späten Pfeil nachsenden wollen, so dass ich höchlich erschrocken mit dem Bein denselben hab’ abwehren müssen, wobei aber, da ich indessen auf dem andern Bein allein dastund, beinahe die Balance verloren hätte.» 104Da die Episode Keller-Lina in Vergessenheit geraten war, deutete Hans Wysling in seiner Biografie Kellers zu dessen 100. Todestag die Passage literarisch: «Warum aber ‹Schwabenmädgen›? Keller spielt damit auf Gottfried August Bürgers ‹Schwabenmädchen› an.» 105Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit führt der Autor die Quellen dieses Gedichts auf, die zu jenem Zeitpunkt Keller zu Bürger bekannt sein konnten. Dass sich hinter der Briefstelle tatsächlich ein Schwabenmädchen verbarg, ahnte er nicht.
Lina bewunderte den Literaten Keller. Als sie 1875 in Genf die eben erschienene zweite Folge der «Leute von Seldwyla» las, war sie gefesselt von der Persönlichkeit der Regel Amrein und von deren «schützendem Engel» Fritzli: «Man sieht, dass Keller ein Mann ist, der das Leben versteht, und kennen gelernt hat, als das, was es ist; denn diese Scene ist keine blosse Einbildung, sondern tiefe Wahrheit, die sich oft genug darbietet.» Die Geschichte des einen Gesellen der «Drei gerechten Kammmacher», der in Seldwyla zurück bleibt, erinnerte sie an ihre Zeit in der Bollerei. «Ich finde in diesem Punkt eine ziemliche Ähnlichkeit mit meinem früheren Leben; ich blieb in der Bollerei sitzen im Gefühl, als wäre ich nun halt einfach dafür bestimmt, meine Jugend, meinen Fleiss, meine Kräfte, ja selbst meine Gesundheit zu opfern … Jetzt finde ich, dass in solch unbewusster Pflichttreue eine gewisse Beschränktheit liege.» In Kellers Erzählungen entdeckte sie Ähnlichkeit «mit unserm, namentlich aber mit meinem Leben». 106Gerne würde sie zusammen mit Huber «Romeo und Julia auf dem Dorfe» wieder lesen.
Während Lina die «Leute von Seldwyla» studierte, hatte Huber als Redaktor der «NZZ» endlich direkten Kontakt zum Schriftsteller. «Später kam ich selber einige Male mit Keller in nähere Berührung, meine Frau aber gar nicht mehr.» 107Sein Mentor Hans Weber, ein guter Freund Kellers, nahm ihn mit zu einem Umtrunk im – inzwischen nicht mehr existierenden – Restaurant zur Meise. Es war ein typischer Männerabend im kellerschen Stil, denn Huber berichtete Lina, «bei nur allzu reichlichem Trinkgelage» 108sei er erst um 1 Uhr morgens ins Bett gekommen.
Huber muss dem Schriftsteller gegenüber Andeutungen von seinen eigenen literarischen Hoffnungen und Versuchen gemacht haben. «Als ich in jungen Jahren einmal Gottfried Keller von dieser Tätigkeit sprach und beifügte, dass es wohl nicht das richtige [sic] sei, nur so nebenbei der Muse dienen zu wollen, unter Hinweis auf das, was er in seinem Störteler darüber gesagt habe, entgegnete er, so sei das nicht gemeint, es sei doch immer besser als jassen.» 109Mit dem Hinweis auf den Möchtegern-Schriftsteller-Dichter aus den «Missbrauchten Liebesbriefen» gab sich Huber betont bescheiden, während Keller mit seinem trockenen Humor Huber zumindest nicht entmutigte.
Jahrzehnte später lebte die Familie Huber in Halle. Durch die «NZZ» erfuhren Lina und Huber von Kellers Tod am 15. Juli 1890. Ebenfalls der Presse entnahm Huber, dass sein ehemaliger Professor Albert Schneider zum Testamentsvollstrecker bestimmt war. Nun ging es darum, alle Spuren von Gottfried Kellers Werben um Lina im Nachlass zu tilgen. Angeblich in Linas Namen schrieb Huber an Schneider: «In einer ganz vertraulichen Sache möchte ich dich hiemit um deinen gütigen Dienst ersuchen.» Zunächst schilderte er die Beziehung Kellers zu Lina: «Gottfried Keller war seinerzeit ein regelmässiger Gast des Caffe Boller an der Schifflände und war gegen meine 1. Frau während jenen langen Jahren stets besonders theilnehmend u. respektvoll. Dennoch war meine Frau weit entfernt das Verhältnis zu G. K. anders denn von irgend welchen Gedanken dass es sich um eine intime Beziehung handeln könnte, u. als zu einem … Freund aufzufassen u. dies auch dann noch nicht, als ihr Gottfried Keller ein hübsches Geschenk mit einem sehr schönen sinnigen Gedicht widmete.» 110Dann ging es um Kellers Vermächtnis. «Nun ist es ja leicht möglich, dass Keller hierüber Aufzeichnungen, vielleicht die zwei betr. Schriftstücke selbst hinterlassen hat, und so möchte ich dich im Namen meiner Frau angelegentlichst darum bitten, deren Interessen, soweit dies mit deiner Stellung als Kellers Vertrauensmann möglich ist, wahrzunehmen. Am liebsten wäre es ihr, das Schriftstück diese Briefe, wenn sie noch vorhanden sein sollten, zurückzuerhalten. Wir würden sie natürlich alles als pietätvoll aufbewahren. Vielleicht geben auch allfällige Aufzeichnungen Kellers Veranlassung, dafür Sorge zu treffen, dass nicht diese Beziehung, die bis jetzt von beiden Seiten glücklich geheim gehalten worden ist, durch vorzeitiges Bekanntwerden profaniert werde. Vielleicht auch hat Keller umgekehrt selber alles in dieser Hinsicht ausgelöscht und beseitigt, und dann betrachte dies als die Mittheilung eines Freundes, die ausser dir bis jetzt Niemand erhalten hat, und wir wollen dieses Schweigen gemeinsam fortsetzen.» Linas Meinung zu Hubers Vorgehen ist nicht überliefert. Am Ende des Schreibens fügte er bei: «Meine l. Frau hat unabhängig von mir heute morgen selber ein Brieflein an dich aufgesetzt, das ich beilege, um unser Gesuch zu verstärken.» 111
Hubers Verschleierungspolitik hatte Erfolg. Kellers Beziehung zu Lina kam erst Ende des 20. Jahrhunderts im Rahmen der kritischen Kellerausgabe ans Licht. Die Dokumente in der Zentralbibliothek Zürich blieben offiziell bis 30 Jahre nach Hubers Tod gesperrt. Selbst Jonas Fränkel, Hubers Kollege an der Universität Bern, der in den 1920er-Jahren die erste Gesamtausgabe Kellers betreute, hatte ausdrücklich keinen Zugang zu diesen Akten. 112
Warum liess es Huber nicht bei Linas persönlichem Brief an Schneider bewenden? Meldete sich der alte, eifersüchtige Verehrer zurück? Schneiders Reaktion lässt solches vermuten. Mit klaren Worten wies er seinen ehemaligen, nun arrivierten Schüler zurecht. «Freilich möchte ich dir doch sagen, dass die Werbung eines Mannes wie Gottfried Keller gewiss zu allen Zeiten nur als eine hohe Ehre erscheinen würde, so vernünftig es auch war, sie auszuschlagen, und so sehr auch diese Ablehnung nun wieder zu Gunsten derjenigen spricht, die sie ausgesprochen hat.» 113
Wenige Tage vor ihrem Tod im April 1910 übergab Lina ihrer Adoptivtochter Marieli den Rubinring, den sie von Gottfried Keller geschenkt bekommen hatte. Den Opalring, ebenfalls ein Geschenk Kellers, sandte Huber an Linas Patenkind Mariechen Rümelin in Tübingen. Im Brief an seine verstorbene Frau deutete er jene ambivalenten Gefühle an, die er stets mit der Erinnerung an die Bollerei verband: «Den Ring trug ich noch ein paar Stunden an meinem kleinen Finger und betrachtete ihn nach allen Seiten, um ihn mir einzuprägen, bevor ich ihn weggebe. Ich hatte ihn nie so gründlich betrachtet, als du ihn noch etwa trugst. Und ich vergegenwärtigte mir, wie er dir seiner Zeit in deinem damaligen Kreis eine naive Freude bereitet hatte, wie du dafür dem grossen Dichter dankbar gewesen, wie das dich alles Öde der Umgebung überwinden und vergessen liess! Ach, es hat ja auch seine Kehrseite. Ich dachte daher an diesen Ring und anderes immer nur mit einem bangen Gefühl. Bei Mariechen besteht von alledem nichts, auch wenn ich es ihr später sage, dass Gottfried Keller den Ring für dich ausgewählt, wie du kaum neunzehn Jahre zähltest. Es wird Mariechen ein liebes Andenken sein an seine Pathin, und so erfüllt der Ring ein zweites Mal seine Bestimmung, edle Freude zu bereiten!» 114
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