Auf den 1. Januar 1874 übernahm eine neue Gerantin, Frau Weiss, das Lokal. Noch stand Lina der Abschied von Herrn Vontobel bevor. Dieser litt an einer schlimmen Erkrankung der Blase. 90Wiederum erlebte Lina Dramatisches: «Die Augen sind schon ganz trübe, die Kräfte nehmen von Stunde zu Stunde ab … Etwa um 1 Uhr in der Nacht ging ich noch zu ihm um zu sehen, wie es gehe und erhielt zur Antwort: Lina, ich muss bald sterben, es währt immer lang.» 91Der qualvolle Todeskampf zog sich über zwölf Stunden hin. David Vontobel war bereits bewusstlos, als sein Bruder auftauchte. Kaum hatte der Wirt den letzten Atemzug getan, nahm der ungebetene Besucher die Schlüssel ab, packte allerhand ein, selbst den Ehering der verstorbenen Frau Votobel liess er mitlaufen und wollte sich eben davon machen. Inzwischen war Lina aufs Waisenamt geeilt und kam mit dessen Direktor zurück. «O! es war grässlich solch ein Aufzug neben einer Leiche!» 92Der «schöne Bruder» musste seine Taschen leeren.
Ihre Wertpapiere hatte Lina bei Herrn Vontobel hinterlegt. Wenige Tage vor seinem Tod übergab er ihr die Unterlagen, ihren ausstehenden Lohn und ein Neujahrsgeschenk. Gross war Linas Überraschung, als sie einige Wochen später erfuhr, dass David Vontobel ihr testamentarisch tausend Franken vermacht hatte. Das war ein Drittel ihres Vermögens, das sie später in die Ehe einbrachte.
FRAU KELLER ODER FRAU HUBER? WERBEN UM LINA
Erst seit wenigen Jahrzehnten ist bekannt, dass Zürichs Staatsschreiber und bedeutendster Schriftsteller Gottfried Keller ebenfalls um Lina warb. Nach Kellers Tod gab sich Huber alle Mühe, diese Episode vergessen zu lassen. Deshalb lässt sich heute nicht mehr feststellen, wann genau Kellers Interesse an Lina erwachte. 93
Während längerer Zeit muss Lina mit gesundheitlichen Problemen gekämpft haben. Auch Gottfried Keller war überzeugt, dass Linas Gesundheit ernsthaft bedroht war. Sie hustete und ihre Gäste fürchteten wohl, Lina sei an Tuberkulose erkrankt. In seinem ersten Brief an Lina vom Spätherbst 1871 nannte Huber für sein überstürztes Handeln unter anderem als Grund, «dass Ihre Gesundheit ein rascheres Vorgehen energisch gebietet … Ihre jetzige Stellung entspricht in keiner Weise Ihrer Gesundheit, und ich darf hinzufügen in keiner Weise Ihren Gemüths- und Geistesanlagen.» 94Er hatte sich mit seiner Schwester Emma beraten und schlug vor, Lina zur Erholung bei einer befreundeten Familie auf dem Land unterzubringen. Postwendend schrieb ihm Lina eine Absage.
Vontobels liessen die kranke Lina nicht fallen, wie sie zu Recht angenommen hatte, jedoch verzögerte sich ihre Genesung. Im Juni 1872 verbrachte sie einen Erholungsurlaub in der Umgebung der Stadt in einer bekannten Heilquelle, dem Nidelbad ob Rüschlikon. Schon 1553 listete der damalige Zürcher Stadtarzt und Naturforscher Conrad Gessner auf, für welche Krankheiten das Bad Heilung versprach. 95Zürcher rapportierte Linas Kuraufenthalt an Huber in Wien. 96Dies löste gleich eine eifersüchtige Reaktion aus: «Ich möchte wissen, in welcher Eigenschaft sie dort weilt, ob die Sache als ein Schritt zur Selbständigkeit aufzufassen ist, oder als ein ihrer Passivität von aussen aufgelegtes Palliativmittel, das sie schliesslich nur noch mehr an Vontobels bindet.» 97
Linas Gesundheit blieb auch nach dem Kuraufenthalt angeschlagen, wie Keller Ende Jahr der befreundeten Marie Exner nach Wien berichtete. «Das gute arme Mädchen Lina in der ‹Bollerei› … sei immer noch ein braves, liebenswürdiges Kind, das des Nachts wegen des wiedergekehrten Hustens nicht mehr schlafen könne und sich doch den ganzen Tag durch plage und dabei blass und mager geworden sei.» Im selben Brief erwähnt Keller den Architekten Gottfried Semper. Lina «schreibe ihm eine Schachtel mit Handschuhen zu, die sie anonym durch die Post erhalten habe, und möchte ihm gerne dafür danken. Neulich kaufte ich ihr ein Ringlein, das sie mit einem von Semper geschenkten am kleinen Finger trägt, so dass sie beide Narren schön vereinigt mit sich führt. Sagen sie das aber Semper nur, wenn er guter Laune ist, sonst wird er wütend.» 98
Der schüchterne Keller nützte Linas Abwesenheit von Zürich, um ihr anonym das Gedicht «Regenliedchen für Lina» «mit einem Korallenhalsband» 99zu schicken. Korallen waren damals sehr in Mode, Keller hatte Linas Sinn für Eleganz erkannt. Ob er sich tiefere Gedanken zu seinem Geschenk machte? Walter Morgenthaler, der Herausgeber der kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe zitiert das Lexikon des deutschen Aberglaubens: «Korallenschnüre aber werden von der Braut getragen, der sie unheilabwehrende Schutzkraft verleihen.» 100Dass sich Keller vom Regen inspirieren liess, hatte handfeste Gründe. Im Brief, in dem Zürcher seinem Freund Huber von Linas Abwesenheit berichtete, klagte er: «Regenwetter haben wir auch, und zwar seit Wochen konstant», und einige Zeilen später sprach er gar von «apokalyptischem Wetter». 101
«Regenliedchen für Lina
Für manchen Becher, den Du ihm
Mit Freundlichkeit gebracht,
hat jetzt ein guter alter Freund
still sinnend Dein gedacht.
Jetzt sitzt sie in dem Regengrau,
Das fern den Berg verhüllt;
Es bleibt ihr Wunsch nach Sonnenschein
Und Lenzluft ungestillt.
Doch bleib’ nur ruhig, gold’nes Kind,
Und lach’ den Regen an
Mit deinem Aug’ voll Sonnenschein
Den bösen Wassermann!
Und dankbar aus den Wolken bringt
Er dir Genesung her;
Dann rauscht er fort - und diese Schnur
Holt er Dir aus dem Meer!
Ein Zeichen, wie er sehr sich schämt,
Sei dir das tiefe Roth! Ach Gott!
wie rauscht und plätschert er,
Bald weint er sich zu todt!
Blick ihn nur an, so muss entsteh’n
Des Regenbogens Pracht,
dann hat dein sonnig’ Auge
den Regen weggelacht.»
Nach einem missglückten mündlichen Versuch machte Keller am Donnerstag vor Ostern, am 10. April 1873, 102Lina schriftlich einen offiziellen Heiratsantrag. Das – verschollene – Original schickte sie ihm wie gewünscht zurück, doch erstellte sie vorher eine Abschrift. Während der jugendliche Huber 1871 vor allem von seiner eigenen Zukunft gesprochen hatte, äusserte sich der 54-jährige Keller liebevoll väterlich-besorgt, über seine Stellung brauchte er nichts anzufügen:
«L. L.
Sie haben Gestern Abend wahrscheinlich gemerkt, wo ich hinaus wollte mit meiner ungeschickten Ankündigung. Ohne viele Worte zu machen, will ich Sie daher jetzt fragen, ob Sie nicht zu viel Widerwillen haben, meine Frau zu werden? Wenn Sie mich nicht mögen, so wissen Sie es jetzt schon u. ich bitte Sie in diesem Falle mir dieses Briefchen mit einem darüber od. darunter geschrieben Nein heute Abend noch zurückzustellen, damit wir dann über die Sachen lachen können wenn ich zurückkomme. Glauben Sie aber mit mir leben zu können u. wollen sie sich die Sache überlegen so können sie mir das an diesem Abende so zu verstehen geben, wie es Ihnen gefällt u. gut scheint. Vielleicht könnten Sie mir über die Ostertage Gelegenheit geben mich näher auszusprechen u. vielleicht würde J. V. Ihnen hiebei mit Ihrem Rath zu Seite sein da Sie sonst Niemand haben. Alle weitern bei solchen Anlässe übliche Redens Arten, will ich jetzt unterlassen einzig will ich Ihnen sagen, dass es mich sehr glücklich machen würde für Sie sorgen u. leben zu dürfen. Ihr Erg G K»
Linas Briefentwurf auf der Rückseite einer Menükarte ist in sehr viel herzlicherem Ton gehalten als ihre Antwort vom November 1871 an Huber.
«G. H. S. [vermutlich: Geehrter Herr Staatsschreiber] Ich kann nicht umhin Ihrem geschätzten Schreiben Einige Worte beizufügen. Genehmigen Sie vor allem meinen besten herzlichsten Dank, für Ihre überaus liebevolle Ansicht, die ebenso unerwartet, als unverhofft an mich gelangte. Der gestrige Abend war wohl derart mich verstehen zu lassen, was Sie mir hier mittheilen u. ich verhehle Ihnen keinen Augenblick, dass mich diese Nachricht (dennoch) ungemein überraschen musste. Allein Sie wissen ja wohl, dass in solchen Angelegenheiten nicht allein der Verstand sondern hauptsächlich das Herz reden soll u. daher zögre nicht länger mit der Antwort wenn Ihnen sage, dass ich auf Ihren wenn auch noch so edeldenckenden Antrag nicht eingehen kann. Genehmigen Sie die Versicherung
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