Ein solcher umgekehrter Irrtum ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt.519 Seine Zulassung bezogen auf die Voraussetzungen der §§ 8 bis 10 TMG würde deren Konzeption zuwiderlaufen. Ziel dieser Regelungen ist es nämlich, für die Diensteanbieter Rechtssicherheit zu schaffen. Zudem beruhen die Haftungsprivilegierungen auf den Art. 12 bis 14 ECRL, die eine Vollharmonisierung und damit einen Mindeststandard an Rechtssicherheit für die Diensteanbieter bezwecken.520 Würde man in diesem Zusammenhang umgekehrte Irrtümer zulassen, würde die Reichweite der Haftungsprivilegierungen von der diesbezüglichen Irrtumsdogmatik in den einzelnen Mitgliedstaaten abhängen, was zu einem unterschiedlichen Mindestschutz führen könnte, wenn bspw. ein Mitgliedstaat umgekehrte Irrtümer zulässt und ein anderer aber nicht. Darüber hinaus hätte die Zulassung eines umgekehrten Irrtums zur Folge, dass der Diensteanbieter bei fehlerhafter Vorstellung ggf. auch dann strafrechtlich sanktioniert werden könnte, wenn er nicht gegen rechtmäßige und ggf. von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Informationen vorgeht. Ein Ergebnis, das gerade mit Blick auf den Grundrechtsschutz der Meinungsfreiheit abzulehnen ist.
Ein umgekehrter Irrtum ist demnach bezogen auf §§ 8 bis 10 TMG nicht zuzulassen.
e. Ergebnis zur Bedeutung der dogmatischen Einordnung für die Annahme eines Irrtums
Bei einem Irrtum über das Vorliegen der Voraussetzungen der Haftungsprivilegierungen des TMG ist im Ergebnis zu unterscheiden. Ein solcher ist nur dann beachtlich, wenn er sich auf Umstände bezieht, die ein subjektiv geprägtes Merkmal der §§ 8 bis 10 TMG ausfüllen. Dieser Irrtum führt nach allgemeinen Rechtsgedanken bzw. einer Auslegung der Voraussetzungen der Haftungsprivilegierungen dazu, dass das subjektive Merkmal, über das geirrt wird, nicht vorliegt. Ein umgekehrter Irrtum, insb. der Fall eines Nichtkennens der Haftungsprivilegierung oder die irrige Annahme der Voraussetzungen, die zu ihrem Entfallen führen, ist hingegen unbeachtlich.
3. Bedeutung der Einordnung für die Teilnahmestrafbarkeit
Angesichts der hier vertretenen Einordnung der Haftungsprivilegierungen als eigenständige und außerhalb der Haftungsnormen zu prüfende Vorfilter bleibt eine Beihilfe (§ 27 Abs. 1 StGB) für Mitarbeiter und Beauftragte des Diensteanbieters auch im Falle dessen Haftungsprivilegierung möglich.521 Dies hat jedoch nur geringe Bedeutung. Zum einen bleibt wegen § 28 Abs. 2 StGB und § 14 Abs. 3 OWiG auch bei den weiteren Auffassungen – mit Ausnahme einer Qualifizierung als Rechtfertigungsgrund – eine Teilnahme möglich. Zum anderen sind insbesondere Mitarbeiter und sonstige Beauftragte des Diensteanbieters in analoger Anwendung der §§ 8 bis 10 TMG unter den Begriff des Diensteanbieters zu subsumieren, sodass die Haftungsprivilegierung auch auf diejenigen Personen ausgedehnt wird, die unterstützend für den Diensteanbieter tätig sind.522
Zudem ist folgendes zu bedenken: Im Falle einer Gehilfenhandlung durch eine den Diensteanbieter unterstützende bzw. für ihn handelnde Person leistet diese nur dann eine Beihilfe (§ 27 Abs. 1 StGB) gegenüber dem Diensteanbieter, wenn dieser Täter (§ 25 StGB) ist. Ist der Diensteanbieter hingegen lediglich Gehilfe in Bezug auf eine Haupttat seines Nutzers, fördert die für den Diensteanbieter handelnde Person mit ihrer eigenen Beihilfehandlung nicht die Beihilfe des Diensteanbieters, sondern die Haupttat des Nutzers. Die Beihilfe der handelnden Person zu einer Beihilfe des Diensteanbieters stellt deshalb eine Beihilfe zu der Haupttat des Nutzers dar.523 In diesem Fall ist es für eine Beihilfestrafbarkeit der handelnden Person unerheblich, ob die Beihilfestrafbarkeit des Diensteanbieters aufgrund einer Haftungsprivilegierung nach §§ 8 bis 10 TMG entfällt.524 Denn die Tat des Nutzers als Anknüpfungstat für den Beihilfevorwurf gegenüber der für den Diensteanbieter handelnden Person bleibt hiervon unberührt. Aufgrund der eigenen Privilegierung der handelnden Person durch eine analoge Anwendung der Haftungsprivilegierungen ist dieses Ergebnis auch billigenswert. Anderenfalls wäre die handelnde Person z.B. im Falle des § 10 Satz 1 TMG selbst dann privilegiert, wenn sie positive Kenntnis von der Nutzertat hat und diese durch ihre Tätigkeit für den Diensteanbieter mit dolus directus ersten Grades fördert, der Diensteanbieter selbst aber in seiner Haftung privilegiert ist, da er keine Kenntnis hat oder er trotz Kenntnis die erforderliche Handlung zur Erhaltung seiner Haftungsprivilegierung nur deshalb nicht vornimmt, weil sie ihm unmöglich oder unzumutbar ist. Gleiches gilt, wenn die Handlung des Diensteanbieters nicht zum Erfolg der Entfernung der Information oder der Sperrung des Zugangs zu der Information führt. Die Lösung über eine analoge Anwendung der Haftungsprivilegierungen führt dann im Fall des § 10 Satz 1 TMG dazu, dass die für den Diensteanbieter handelnde Person selbst tätig werden muss, um ihre Haftungsprivilegierung nicht zu verlieren. Dieses Tätigwerden wird in der Regel in einer Mitteilung an den Diensteanbieter liegen, der dann selbst Kenntnis erlangt und i.S.d. § 10 Satz 1 Nr. 2 TMG tätig werden muss, um seine Haftungsprivilegierung nicht zu verlieren.
Kommt anstelle einer Beihilfe durch die für den Diensteanbieter handelnde Person eine Anstiftung (§ 26 StGB) in Betracht, ist bereits kein Grund ersichtlich, wieso die handelnde Person privilegiert werden sollte. Die Anstiftung zur Anstiftung (sog. Kettenanstiftung) wird ebenso wie die mittelbare Beihilfe als Anstiftung zur Haupttat bestraft,525 also als Anstiftung zu der Tat des Nutzers. Soweit § 26 StGB eine vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat zur Voraussetzung hat, handelt es sich auch bei dieser – im Falle der sog. Kettenanstiftung – nicht um die Anstiftung des Diensteanbieters, sondern um die Haupttat des Nutzers.526
Im Hinblick auf die Teilnahmestrafbarkeit von Mitarbeitern und anderen Personen, die den Diensteanbieter unterstützen, kann die dogmatische Einordnung demnach nur dann Bedeutung haben, wenn der Diensteanbieter ausnahmsweise Täter ist.527 Aber auch in diesem Fall wäre die Haftungsprivilegierung im Wege einer Analogie auf die unterstützende Person anwendbar, sodass diese bereits hinreichend geschützt ist.528
4. Bedeutung der Einordnung für das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG
Soweit zur Begründung einer Verortung der Haftungsprivilegierungen auf Tatbestandsebene die „klare Geltung“ des Bestimmtheits- und Analogieverbots i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG angeführt wird,529 überzeugt dies nicht. Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
Die Regelung „bezieht sich auf alle unmittelbar strafbarkeitsbegründenden oder -verschärfenden Normen und erfasst damit sämtliche materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit“.530 Erfasst sind neben dem Allgemeinen und Besonderen Teil des StGB, also insb. den Tatbestandsmerkmalen von Straftatbeständen, auch das Strafanwendungsrecht sowie Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe, aber auch Strafbarkeitsbedingungen und Strafausschließungsgründe.531 Letztere sind jedenfalls dann erfasst, wenn es sich um gesetzlich geregelte Strafausschließungsgründe handelt.532
Zwar findet sich die Auffassung, dass Art. 103 Abs. 2 GG auf Rechtfertigungsgründe keine Anwendung findet, da diese „keine spezielle Materie des Strafrechts“ sind und allen Rechtsbereichen entstammen.533 Der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung gebiete deshalb Art. 103 Abs. 2 GG nicht auf Rechtfertigungsgründe anzuwenden, da anderenfalls „ein Verhalten z.B. zivilrechtlich als zum Schadensersatz verpflichtendes Unrecht angesehen“ werden könnte und „im Strafrecht dagegen als rechtmäßig den vollen Beifall der Rechtsordnung finde[n]“ würde.534
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