III. Die Ausnahme vom Herkunftslandprinzip
Die Anwendung des Herkunftslandprinzips könnte jedoch aufgrund des Vorliegens einer Ausnahme ausgeschlossen sein.
Insofern finden sich in § 3 Abs. 3 und 4 TMG generelle Bereichsausnahmen, welche die Ausnahme des Art. 3 Abs. 3 ECRL i.V.m. dem Anhang zur ECRL umsetzen. Das Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht sind von diesen generellen Ausnahmen jedoch nicht erfasst.
Es könnte jedoch die auf Art. 3 Abs. 4 lit. a ECRL zurückgehende Einzelfallausnahme des § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 lit. a, aa TMG einschlägig sein. Danach unterliegen das Angebot und die Erbringung von Telemedien, bei denen es sich nicht um audiovisuelle Mediendienste handelt, durch einen Diensteanbieter, der in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist, den Einschränkungen des deutschen Rechts, soweit dieses dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insb. im Hinblick auf die Verhütung, Ermittlung, Aufklärung, Verfolgung und Vollstreckung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, einschließlich des Jugendschutzes und der Bekämpfung der Verunglimpfung aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität oder von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen, vor Beeinträchtigungen oder ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren dient. Gemäß § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG müssen die Maßnahmen, die auf der Grundlage des deutschen Rechts in Betracht kommen, in einem angemessenen Verhältnis zu diesen Schutzzielen stehen.
Wie die Formulierung „insbesondere“ in § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 lit. a. TMG deutlich macht, sind die genannten Fälle nicht abschließend, sodass eine Ausnahme auch in anderen Fällen in Betracht kommen kann, wenn dies dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dient.300
Der Wortlaut der Regelung macht deutlich, dass es sich nur um eine Ausnahme im Einzelfall handelt. Denn die Ausnahme verlangt gerade, dass die Maßnahme im Einzelfall dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor Beeinträchtigungen oder ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren dient sowie verhältnismäßig ist.301
Soweit zum Teil vertreten wird, dass „die nach der Richtlinie vorausgesetzte Beeinträchtigung bzw. qualifizierte Gefahr [...] bei der Erfüllung entsprechender Tatbestände nach dem deutschen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht stets gegeben sein“ wird302 und grundsätzlich davon auszugehen ist, dass „die Reaktion des deutschen Strafrechts auch ‚angemessen‘ ist“,303 ist dem entgegenzuhalten, dass damit gerade das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Herkunftslandprinzips unterlaufen würde. Die Nichtaufnahme des Strafrechts und Ordnungswidrigkeitenrechts in den Anhang zur ECRL macht deutlich, dass der europäische Richtliniengeber keine generelle Bereichsausnahme für diese Bereiche wollte. Würde man nun aber stets eine Beeinträchtigung bzw. qualifizierte Gefahr annehmen, wenn ein Tatbestand aus einem dieser Bereiche erfüllt ist, würde damit faktisch eine generelle Bereichsausnahme geschaffen. Denn vom Vorliegen einer Beeinträchtigung bzw. qualifizierten Gefahr hin zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ist es dann kein weiter Weg mehr.304
2. Beeinträchtigung oder qualifizierte Gefahr
Für das Vorliegen der Ausnahme ist zunächst eine Beeinträchtigung oder eine qualifizierte Gefahr erforderlich.
Eine Gefahr ist bei einem Zustand zu bejahen, der bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für das geschützte Rechtsgut führt.305 Die Gefahr muss ernsthaft und schwerwiegend, also qualifiziert, sein. Eine einfache Gefahr genügt nicht.306 Nicht ausreichend ist deshalb das Bestehen der abstrakten Möglichkeit einer Gefahr. Bei abstrakten Gefährdungsdelikten, die nicht den Eintritt einer Gefahr voraussetzen, ist es deshalb erforderlich, dass die Maßnahme im „Einzelfall der Bekämpfung einer konkreten Gefahr dient“.307 Das Gleiche muss für abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte gelten.
Eine Beeinträchtigung liegt immer dann vor, wenn sich die Gefahr realisiert hat und damit eine Störung bzw. ein Schaden für das geschützte Rechtsgut eingetreten ist. Dies ist immer dann zu bejahen, wenn der Tatbestand eines Erfolgsdelikts vollendet ist oder sich die Gefahr eines Gefährdungsdelikts realisiert hat.308 In Bezug auf die Gefahren, die der Verbreitung von Hassbotschaften innewohnen, ist regelmäßig von einer qualifizierten Gefahr auszugehen, wenn die Inhalte tatsächlich abgerufen und wahrgenommen werden.
3. Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG
Die Maßnahme, für die die Ausnahme vom Herkunftslandprinzip gelten soll, muss im Einzelfall verhältnismäßig sein (vgl. § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG).309 Innerhalb der deshalb vorzunehmenden Angemessenheitsprüfung genießen die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zum Zwecke des Jugendschutzes und der Bekämpfung der Verunglimpfung aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen wegen der ausdrücklichen Nennung in § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 lit. a, aa TMG einen Abwägungsvorsprung.310 Dass diesen Schutzgütern ein besonderer Stellenwert zukommt, ergibt sich auch aus ihrer Nennung in Art. 3 Abs. 4 lit. a Nr. i ECRL und der damit einhergehenden gemeinschaftsrechtlichen Wertung.311 Bestätigt wird dies durch Art. 9 Abs. 1 lit. c Ziff. i und ii AVMD-RL. Danach darf audiovisuelle kommerzielle Kommunikation nicht die Menschenwürde verletzen und ebenfalls nicht eine Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Rasse oder ethnischer Herkunft, Staatsangehörigkeit, Religion oder Glauben, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung beinhalten oder fördern.
Auch wenn als schlechthin konstituierendes Grundrecht für eine freiheitlich demokratische Grundordnung im Rahmen der Abwägung die Meinungsfreiheit i.S.d. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG und Art. 10 Abs. 1 EMRK in besonderer Weise zu berücksichtigen ist, ist wegen des erwähnten Abwägungsvorsprungs davon auszugehen, dass Maßnahmen zur Bekämpfung von Hassbotschaften in der Regel verhältnismäßig sind.312
4. Konsultations- und Informationspflichten
§ 3 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 1 TMG bestimmt, dass die Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip nach § 3 Abs. 5 Satz 1 TMG nur zulässig sind, wenn die gemäß Art. 3 Abs. 4 lit. b und Abs. 5 ECRL erforderlichen Verfahren, also Konsultations- und Informationspflichten, eingehalten werden. Gemäß § 3 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 TMG bleiben davon jedoch gerichtliche Verfahren einschließlich etwaiger Vorverfahren und die Verfolgung von Straftaten einschließlich der Strafvollstreckung und von Ordnungswidrigkeiten unberührt. Mithin sind die Konsultations- und Informationspflichten dem TMG zufolge in diesen Verfahren nicht einzuhalten.
Grundsätzlich hat der Mitgliedstaat gem. Art. 3 Abs. 4 lit. b ECRL vor Ergreifen der betreffenden Maßnahmen unbeschadet etwaiger Gerichtsverfahren, einschließlich Vorverfahren und Schritten im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung, den Mitgliedstaat, in dem der Diensteanbieter seine Niederlassung hat, und die Europäische Kommission zu konsultieren und informieren. Anders als in der deutschen Umsetzung sind Strafverfahren von dieser Pflicht nicht ausgenommen, denn die Formulierung „unbeschadet“ bedeutet nicht „mit Ausnahme von“, sondern „ohne Rücksicht auf“ und „ohne Schaden, ohne Nachteil für“.313 Noch deutlicher wird die englische Sprachfassung der ECRL, die ausführt, dass die Konsultations- und Informationspflichten „without prejudice to court proceedings [...]“ vorzunehmen sind.
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