In der Hauptuntersuchung blieben der Beobachtungsort und das statische Vorgehen unverändert, wobei sich die Schiffstation in der Vorstudie als am wenigsten ergiebig erwiesen hatte. Der Beobachtungsplan wiederum fand nur beschränkten Einsatz, die darin explizierten Fokusse dienten jedoch auch weiterhin als implizite Leitplanken, als Sensibilisierungsraster. Die Verschriftlichung erfolgte nunmehr in freier Form – aus zwei Gründen: Die Beobachtung sollte, wie erwähnt, möglichst diskret, also von den Besuchenden unbemerkt, erfolgen, da ansonsten die Präsenz des Forschenden das Verhalten seiner Untersuchungspersonen hätte beeinflussen können. Ein grösseres elektronisches Schreibgerät oder ein physisch sichtbarer Notizblock schied deshalb, nicht zuletzt aufgrund der kleinräumigen Verhältnisse auf dem Rütli, aus. Geeignet erwies sich deshalb das Mobiltelefon, das als Notizblock diente.[318] Der zweite Grund bestand darin, dass sich auch im vereinfachten Raster die Beobachtungen nicht genügend rasch in die vorgegebenen Rubriken eintragen liessen oder das Beobachtete andere Eigenschaften aufwies.
2.3.5.2 Stichprobe und Erhebung
Die nichtteilnehmende Beobachtung erfolgte sowohl in der Vor- als auch in der Hauptstudie. Die Vorstudie von 2013 ergab zwei halbtätige Beobachtungsphasen Mitte Juli (unter der Woche) und Mitte August (Sonntag), beide Male bei hochsommerlichem Wetter. Zusätzliche Beobachtungsnotizen entstanden anlässlich der Bundesfeier am 1.8. sowie des Rütlischiessens am 6.11.
Die Hauptuntersuchung von 2014 gestaltete sich umfangreicher. Um die verschiedenen Erhebungen in situ arbeitsmässig bewältigen zu können, fand die Beobachtung oft abwechselnd mit den Kurzinterviews und den Kurzfragebogen statt. Wie bei den Kurzinterviews wurde darauf geachtet, dass sowohl der Wochentag als auch die Tageszeit variierten und die Beobachtungsphasen unterschiedlich lang dauerten. Unter diesen Prämissen entstanden 11 Beobachtungssequenzen, die sich von einer Stunde bis zu mehr als einem halben Tag erstreckten. Die in Echtzeit angefertigen Notizen wurden am Abend redigiert und abgelegt. MAXQDA diente anschliessend dazu, die verschriftlichten Beobachtungen auszuwerten, gemäss dem Vorgehen, wie es für die Kurzinterviews in Kapitel 2.3.1.1beschrieben wird.[319]
Gemäss der konzeptionellen Zweiteilung der Untersuchung, wie sie das visualisierte Theoriegerüst und die Fragestellungen ausweisen ( Darstellungen 3und 4, Kapitel 1.10), geht der Analyse des Denkmalgebrauchs die Untersuchung des Denkmals als Gegenstand voraus. Das auf ersten Blick vertraute und natürliche Erscheinungsbild der Denkmalanlage bedarf einer minutiösen Beschreibung – erst der zweite Blick zeigt, wie dicht und intensiv das Gelände gestaltet und wie facettenreich dessen Deutung ist. Methodisch führt dies zu einem zweistufigen Verfahren ( Kapitel 3.1bis 3.8). Die detaillierte Beschreibung der Denkmalelemente knüpft an Panofskys Bildinterpretationsschema an, genauer an die vor-ikonografische Beschreibung. Dieser Schritt erfährt eine Historisierung, indem eine vor-ikonografisch synchrone von einer vor-ikonografisch diachronen Perspektive unterschieden wird. Dieser Längsschnitt ermöglicht es, auch die geschichtskulturelle Dynamik zu fassen. Der zweite Analyseschritt kombiniert aus darstellungspraktischen Gründen Panofskys ikonografische Analyse mit ersten Ansätzen ikonologischer Interpretation. Deren weitere Vertiefung erfolgt anhand mehrerer gegenstandsbezogener Theorien, deren Auswahl durch die dem Projekt zugrundeliegenden Konzeption bedingt ist ( Kapitel 3.9).[320] Dazu gehört Speitkamps kulturwissenschaftliches Analyseraster, das eine hilfreiche Grundlage bietet, um die öffentliche Wirkung eines Denkmals zu untersuchen. Nipperdeys Typologie der Nationaldenkmäler ihrerseits verallgemeinert die analytische Perspektive weiter, indem sie vom Nationaldenkmal als Ausprägung des Nationalbewusstseins ausgeht. Abschliessend soll das Rütli mit zentralen Elementen der schweizerischen Identitätskonstruktion in Verbindung gebracht werden, mit denen sich insbesondere Marchal intensiv auseinandergesetzt hat.
Die folgenden Hauptkapitel 4, 5 und 6 fokussieren auf den Gebrauch der Anlage. Entlang von Schönemanns Unterscheidung von kollektivem und individuellem Geschichtsbewusstsein – sie ist im theoretischen Gerüst für alle Operationalisierungsdimensionen nach Hettling übernommen worden –,[321] widmen sich in einem ersten Schritt und aus kollektiver Perspektive mehrere Teilstudien den textlichen, danach den bildlichen Darstellungen des Denkmals und des Gründungsmythos. Damit soll aufgezeigt werden, welche Narrative und narrativen Chiffren Behörden (Regierung, Verwaltung), Medien und andere gesellschaftliche Akteure (Wissenschaft, Kunst, Tourismusorganisationen) hervorbrachten. Die textlichen Rütlidarstellungen ( Kapitel 4.1) setzen mit jenen Beschreibungen ein, die Chronisten, Historiker und Literaten vor dem Kauf des Geländes 1858 angefertigt hatten. Dazu zählen die traditionsbildenden Texte, welche den Mythos seit Ende des 15. Jahrhunderts geformt haben, genauso wie die wirkungsmächtigste Bearbeitung, die Schiller mit seinem Drama «Wilhelm Tell» vorlegte. Ausschnitte daraus fanden sich sogar in den Reiseführern. Die diachron angelegte Teilstudie zu diesem Gebrauchsmedium spannt den Bogen von der ersten Ausgabe des Baedeker-Führers zur Schweiz von 1841 bis zu aktuellen Publikationen. Entschieden pädagogisch ausgerichtet sind die Lesebücher und die Geschichtsbücher, die unter behördlicher Obhut für den Schulunterricht entwickelt wurden. Die in diesen Unterrichtsmaterialien enthaltenen Rütli-Narrative veränderten sich im Verlauf des Untersuchungszeitraums stark. Sowohl Behörden als auch Private nahmen schliesslich Einfluss auf Strassen- und Schiffsbezeichnungen, deren geschichtskulturelle Präsenz mit derjenigen von Wertzeichen und Münzen vergleichbar ist.
Für die visuelle Repräsentation des Denkmals fiel die Wahl naheliegenderweise auf geschichtskulturelle Medien, die für das Rütli von besonderer Bedeutung sind ( Kapitel 4.2). An erster Stelle stehen Stückelbergs Tellskapellen-Fresken, die zur ikonischen Darstellung des Rütli-Schwurs wurden, wie ein Blick auf Postkartenbestände zeigt. Gerade das Verschicken von Postkarten, versehen mit einem ortsspezifischen Stempel, entsprach einer langjährigen Tradition. Damit stehen Abbildungen in touristischen Materialien in Zusammenhang, welche die Innerschweizer Tourismusbüros heute auslegen oder die im Untersuchungszeitraum dreidimensional inszeniert worden waren. Eine pädagogische Absicht ist den Rütlibroschüren eigen, von welchen die SGG im Verlauf des letzten Jahrhunderts vier Fassungen herausgab. Geschichtskultureller Abbildcharakter kommt wegen ihrer alltäglichen Präsenz auch Münzen, Banknoten, Briefmarken und Poststempel zu. Mit diesen Visualisierungen konnten staatliche Behörden für die alltägliche Präsenz von Motiven sorgen – ähnlich dem im Alltag zunehmend präsenten Fernsehen, dessen Rütli-Bilder im diachronen Längsschnitt analysiert werden. Das Beispiel einer kommerziellen Nutzung in Inserateform rundet die Analyse der Visualisierungen ab.
Zu diesen kollektiv produzierten und eingesetzten Narrativen zu Mythos und Denkmal tritt die nach Hettling dritte Komponente, jene des Festes resp. der symbolischen Praxis hinzu. Im Rahmen des vierten Kapitels werden jene Aspekte diskutiert, die sich ausschliesslich auf die kollektive Praxis beziehen. Dazu zählen erstens Frequenz, Umfang und Ausgestaltung der institutionalisierten Gedenkfeiern ( Kapitel 4.3), das heisst der staatlich und von privater Seite organisierten Anlässe zum Gedenken an 1291 und an den Rütli-Rapport, sei es in Form grosser Jubiläen, sei es in Form jährlich stattfindender Veranstaltungen, die in ihrer Frequenz und Inszenierung untersucht werden. Eine Teilstudie erlaubt zudem qualitative und quantitative Aussagen zur massenmedialen Berichterstattung über diese Gedenkfeiern im Speziellen und, im Vergleich, zum Rütli allgemein. Kapitel 4.4wiederum fächert die verschiedenen Kategorien von Gruppen auf, die das Rütli besuchen, und zeichnet die quantitative Entwicklung dieser Besuche nach. Als besondere Gruppenkategorie gelten die Schulklassen – vor allem wegen der oft zitierten Schulreisetradition –, deren quantitative Entwicklung sich anhand verschiedener Quellenbestände skizzieren lässt ( Kapitel 4.5). Weitere Facetten der kollektiven Praxis werden in Kapitel 6zusammen mit denjenigen der individuellen Praxis dargestellt. Diese zweigliedrige Strukturierung ergibt sich sowohl aus inhaltlichen als auch aus erkenntnispraktischen Überlegungen.
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