2.3.4.2 Stichprobe und Erhebung
Gemäss dem «konstruktivistischen» Verständnis des Experten resp. der Expertin wurden Personen angefragt, die im Hinblick auf die Gestaltung und den Gebrauch des Rütlis über spezifisches Wissen verfügen. Dazu zählten als erste Gruppe Personen, deren berufliche Tätigkeit eng mit dem Rütli zusammenhing (Pächter, Führer, Tourismus-Fachpersonen), zu der zweiten Gruppe zählten Personen, die einen besonderen regionalen Bezug zum Rütli aufwiesen (lokale Medien, Tellspielgesellschaft Altdorf). Der Verfasser der neuen Geschichte des Kantons Uri bildete schliesslich die dritte Gruppe. Darstellung 8 führt die jeweiligen objekttheoretischen Vorüberlegungen auf.
Die Gespräche dauerten zwischen 45 und 120 Minuten und fanden nicht auf dem Rütli, sondern am Arbeits- oder Wohnort der Expertin oder des Experten statt. Die 2014 geführten Interviews wurden transkribiert und in MAXQDA eingelesen. Die partielle Kodierung verlief deduktiv entlang der durch die Kurzinterviews erhaltenen Codes; weitere wurden – bei Bedarf – induktiv gebildet.[311]
Objekttheoretische Überlegungen zu den interviewten Expertinnen und Experten |
Name |
Tätigkeit/Bezug zu Rütli |
Erwartete Informationen |
Edi Truttmann |
Rütlipächter von 1995 bis 2014 |
Umgang der Besuchenden mit Rütli; Anekdoten/mündlich tradiertes Wissen |
Dr. Herbert Ammann |
Ehemaliger Geschäftsführer SGG (Verwalterin des Rütlis) |
Bedeutung des Rütlis für die SGG, Gebrauch des Rütlis, Gestaltung des Denkmals |
Fredy Zwyssig |
Pensionierter SBB-Angestellter; langjähriger Rütli-Führer |
Rütliführungen, deren Inhalte und Frequenz; die soziodemografische Zusammensetzung der Gruppen, deren Interesse; Anekdoten / mündlich tradiertes Wissen |
Frieda Muff |
Langjährige Rütli-Führerin (im Auftrag von Tourismus Brunnen) |
Rütliführungen, deren Inhalte und Frequenz; die soziodemografische Zusammensetzung der Gruppen, deren Interesse; Anekdoten / mündlich tradiertes Wissen |
Fabienne Vollenweider |
Geschäftsleiterin Tourismus Brunnen |
Touristische Bedeutung des Rütlis |
Christoph Näpflin |
Historiker, Geograf (lic.phi.); Geschäftsführer der Treib-Seelisberg-Bahn |
Touristische Bedeutung des Rütlis im Urnersee-Kontext; Rütliführungen, deren Inhalte und Frequenz; die soziodemografische Zusammensetzung der Gruppen, deren Interesse; Anekdoten /mündlich tradiertes Wissen |
Werner Lüönd |
Leiter Marketing und Sales, Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersee SGV |
Touristische Bedeutung des Rütlis aus Sicht der Schifffahrtsgesellschaft |
Markus Zwyssig |
Stv. Redaktionsleiter, Urner Zeitung, Altdorf |
Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern, Rolle SGG als Verwalterin |
Dr. Josef Arnold |
Ehem. Rektor des Kollegiums (Mittelschule) in Altdorf (UR), Mitglied Tellspielgesellschaft |
Bedeutung Tellspiele, Bezug Tellspiele–Rütli, Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern |
Barbara Bär |
Regierungsrätin des Kantons Uri, Mitglied Tellspielgesellschaft |
Bedeutung Tellspiele, Bezug Tellspiele–Rütli, Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern |
Dr. Hans Stadler-Planzer |
Freischaffender Historiker, Autor der «Geschichte des Landes Uri» (2015) |
Bedeutung Tellspiele, Bezug Tellspiele–Rütli, Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern |
Darstellung 8
2.3.5 Nichtteilnehmende Beobachtung
2.3.5.1 Instrument
Als weiteres qualitatives Instrument diente die Beobachtung, ein «methodisch kontrolliertes Fremdverstehen», das darauf abzielt, Handlungsabsichten, -gründe und -erklärungen von untersuchten Subjekten zu rekonstruieren.[312] Um dieses Ziel zu erreichen, ist der Forscher angehalten, gegensätzliche Ansprüche auszubalancieren. Er ist angehalten, sich von sich selbst, seiner Alltagswirklichkeit zu distanzieren, um sich mit dem Standpunkt der Beobachteten zu identifizieren. Umgekehrt muss er sich von den untersuchten Subjekten distanzieren und mit seinen Forschungsfragen identifizieren, um das Handeln beschreiben und verstehen zu können.[313] Die Methode der Beobachtung bot sich gerade für das vorliegende Projekt an, weil sie erlaubt, näher und anders an die gelebte Praxis der Besucherinnen und Besucher heranzugehen und auf diese Weise die Kurzinterviews zu ergänzen: Die Logik der Praxis kann sich von den erzählten subjektiven Theorien (der handelnden Subjekte) über ebendiese Praxis unterscheiden, die ihrerseits beeinflussbar ist durch das Moment der sozialen Erwünschtheit.[314]
Die Beobachtung erfolgte systematisch, unstrukturiert und strukturiert, mit geringem oder keinem Partizipationsgrad.[315] Besonders die Frage der Strukturierung ist bedeutsam: Sie läuft der für diesen qualitativen Zugang zentralen Haltung einer grossen, voraussetzungsfreien Offenheit entgegen, die nötig ist, um das untersuchte soziale Feld in seiner Eigenheit und in theorieentdeckendem Sinn zu erfassen. Dieser Anspruch einer möglichst detailreichen Wahrnehmung resp. Niederschrift der Praxis birgt jedoch die Gefahr in sich, vor lauter Details das für die Fragestellung Relevante zu übersehen. Demgegenüber würde ein vorab festgelegtes, detailliertes Kategoriensystem der methodischen Grundintention zuwiderlaufen. Deshalb wird empfohlen, vor der Feldarbeit allgemeine Richtlinien in Form grober Hauptkategorien als Beobachtungsrahmen zu formulieren, was Kelle/Kluge als «theoretische Sensiblisierung» bezeichnen.[316] Vor diesem Hintergrund entstanden – wiederum auf der Basis von Hettlings «Erlebnisraum»-Konzept – zwei Beobachtungsfokusse, die den Forschungsprozess kanalisierten: Wie nehmen die Besuchenden das Denkmal wahr? Inwiefern werden Auseinandersetzungen mit dem Ort sichtbar und welcher Art sind sie?
Neben der Frage der Strukturierung stellte sich bei der systematischen Beobachtung auch diejenige der Partizipation. An sich wäre eine Teilnahme des Forschenden an individuellen Rütlibesuchen denkbar gewesen, dennoch sprachen im Wesentlichen zwei Gründe dagegen. Zum einen war es nicht erforderlich, grundsätzliches Wissen über das beforschte soziale Feld zu generieren.[317] Zum anderen, auch wenn eine partizipative Begehung praktisch möglich gewesen wäre, hätte sie wohl den in der Regel wortlosen, privaten und auch politisch grundierten Besuch gestört. Deshalb erfolgte die Beobachtung ohne Interaktion mit dem Feld und ohne dessen Wissen, beobachtet zu werden. Gleichzeitig ergab sich daraus eine statische – anstelle einer dynamischen – Vorgehensweise. Ein Rütli-Rundgang führt zu mehreren inszenierten Stellen, die sich aufgrund der Besuchsfrequenz als Beobachtungsposten eignen: die Schiffstation, der Schwurplatz und die Rütliwiese. Um die schriftliche Fixierung der Beobachtungen zu erleichtern, entstand im Verlauf der Vorstudie ein Beobachtungsplan, welcher die drei Beobachtungsposten mit Verhaltenstypologien (Anschauen, Verstehen, sonstiges Handeln), verhaltensbezogenen Objekten (Info-Tafel, Reiseführer etc.) sowie Zeitdauer kombinierte. Bereits die ersten Versuche zeigten, dass die verfügbare Beobachtungszeit nicht reichte, um die Eindrücke kriterial vollständig zu verschriftlichen. Für die Hauptuntersuchung wurde deshalb der Plan auf zwei Ebenen reduziert: auf die quantitative Erfassung allgemeiner Verhaltensweisen sowie auf offene, detaillierte Beobachtungen (Feld «Notizen»; Darstellung 9).
Darstellung 9
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