Martin Schaub - Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?

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Inwiefern sind Denkmäler Orte des informellen Geschichts-Erlebens und -Lernens? Konkret: Welches Wissen, welche Vorstellungen bringen Besucherinnen und Besucher mit? Wie nehmen sie das Denkmal wahr? Wie eignen sie sich den Ort an? Was nehmen sie mit? Die vorliegende Untersuchung fragt – am Beispiel des Rütlis – nach dem individuellen und kollektiven Umgang mit einem Denkmal und zugleich nach dessen Gebrauch und Instrumentalisierung. Die im chronologischen Längsschnitt beobachtbare geschichtskulturelle Dynamik prägt auch die Denkmalgestaltung. Deren detaillierte Analyse und Deutung zeigt, wie und mit welcher Wirkungsabsicht der Schauplatz des Gründungsmythos inszeniert wurde und wird, und wie sich Gestaltung und Gebrauch gegenseitig beeinflussen.

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2.3.4.2 Stichprobe und Erhebung

Gemäss dem «konstruktivistischen» Verständnis des Experten resp. der Expertin wurden Personen angefragt, die im Hinblick auf die Gestaltung und den Gebrauch des Rütlis über spezifisches Wissen verfügen. Dazu zählten als erste Gruppe Personen, deren berufliche Tätigkeit eng mit dem Rütli zusammenhing (Pächter, Führer, Tourismus-Fachpersonen), zu der zweiten Gruppe zählten Personen, die einen besonderen regionalen Bezug zum Rütli aufwiesen (lokale Medien, Tellspielgesellschaft Altdorf). Der Verfasser der neuen Geschichte des Kantons Uri bildete schliesslich die dritte Gruppe. Darstellung 8 führt die jeweiligen objekttheoretischen Vorüberlegungen auf.

Die Gespräche dauerten zwischen 45 und 120 Minuten und fanden nicht auf dem Rütli, sondern am Arbeits- oder Wohnort der Expertin oder des Experten statt. Die 2014 geführten Interviews wurden transkribiert und in MAXQDA eingelesen. Die partielle Kodierung verlief deduktiv entlang der durch die Kurzinterviews erhaltenen Codes; weitere wurden – bei Bedarf – induktiv gebildet.[311]

Objekttheoretische Überlegungen zu den interviewten Expertinnen und Experten
Name Tätigkeit/Bezug zu Rütli Erwartete Informationen
Edi Truttmann Rütlipächter von 1995 bis 2014 Umgang der Besuchenden mit Rütli; Anekdoten/mündlich tradiertes Wissen
Dr. Herbert Ammann Ehemaliger Geschäftsführer SGG (Verwalterin des Rütlis) Bedeutung des Rütlis für die SGG, Gebrauch des Rütlis, Gestaltung des Denkmals
Fredy Zwyssig Pensionierter SBB-Angestellter; langjähriger Rütli-Führer Rütliführungen, deren Inhalte und Frequenz; die soziodemografische Zusammensetzung der Gruppen, deren Interesse; Anekdoten / mündlich tradiertes Wissen
Frieda Muff Langjährige Rütli-Führerin (im Auftrag von Tourismus Brunnen) Rütliführungen, deren Inhalte und Frequenz; die soziodemografische Zusammensetzung der Gruppen, deren Interesse; Anekdoten / mündlich tradiertes Wissen
Fabienne Vollenweider Geschäftsleiterin Tourismus Brunnen Touristische Bedeutung des Rütlis
Christoph Näpflin Historiker, Geograf (lic.phi.); Geschäftsführer der Treib-Seelisberg-Bahn Touristische Bedeutung des Rütlis im Urnersee-Kontext; Rütliführungen, deren Inhalte und Frequenz; die soziodemografische Zusammensetzung der Gruppen, deren Interesse; Anekdoten /mündlich tradiertes Wissen
Werner Lüönd Leiter Marketing und Sales, Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersee SGV Touristische Bedeutung des Rütlis aus Sicht der Schifffahrtsgesellschaft
Markus Zwyssig Stv. Redaktionsleiter, Urner Zeitung, Altdorf Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern, Rolle SGG als Verwalterin
Dr. Josef Arnold Ehem. Rektor des Kollegiums (Mittelschule) in Altdorf (UR), Mitglied Tellspielgesellschaft Bedeutung Tellspiele, Bezug Tellspiele–Rütli, Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern
Barbara Bär Regierungsrätin des Kantons Uri, Mitglied Tellspielgesellschaft Bedeutung Tellspiele, Bezug Tellspiele–Rütli, Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern
Dr. Hans Stadler-Planzer Freischaffender Historiker, Autor der «Geschichte des Landes Uri» (2015) Bedeutung Tellspiele, Bezug Tellspiele–Rütli, Bedeutung des Rütlis, der dortigen Bundesfeiern

Darstellung 8

2.3.5 Nichtteilnehmende Beobachtung

2.3.5.1 Instrument

Als weiteres qualitatives Instrument diente die Beobachtung, ein «methodisch kontrolliertes Fremdverstehen», das darauf abzielt, Handlungsabsichten, -gründe und -erklärungen von untersuchten Subjekten zu rekonstruieren.[312] Um dieses Ziel zu erreichen, ist der Forscher angehalten, gegensätzliche Ansprüche auszubalancieren. Er ist angehalten, sich von sich selbst, seiner Alltagswirklichkeit zu distanzieren, um sich mit dem Standpunkt der Beobachteten zu identifizieren. Umgekehrt muss er sich von den untersuchten Subjekten distanzieren und mit seinen Forschungsfragen identifizieren, um das Handeln beschreiben und verstehen zu können.[313] Die Methode der Beobachtung bot sich gerade für das vorliegende Projekt an, weil sie erlaubt, näher und anders an die gelebte Praxis der Besucherinnen und Besucher heranzugehen und auf diese Weise die Kurzinterviews zu ergänzen: Die Logik der Praxis kann sich von den erzählten subjektiven Theorien (der handelnden Subjekte) über ebendiese Praxis unterscheiden, die ihrerseits beeinflussbar ist durch das Moment der sozialen Erwünschtheit.[314]

Die Beobachtung erfolgte systematisch, unstrukturiert und strukturiert, mit geringem oder keinem Partizipationsgrad.[315] Besonders die Frage der Strukturierung ist bedeutsam: Sie läuft der für diesen qualitativen Zugang zentralen Haltung einer grossen, voraussetzungsfreien Offenheit entgegen, die nötig ist, um das untersuchte soziale Feld in seiner Eigenheit und in theorieentdeckendem Sinn zu erfassen. Dieser Anspruch einer möglichst detailreichen Wahrnehmung resp. Niederschrift der Praxis birgt jedoch die Gefahr in sich, vor lauter Details das für die Fragestellung Relevante zu übersehen. Demgegenüber würde ein vorab festgelegtes, detailliertes Kategoriensystem der methodischen Grundintention zuwiderlaufen. Deshalb wird empfohlen, vor der Feldarbeit allgemeine Richtlinien in Form grober Hauptkategorien als Beobachtungsrahmen zu formulieren, was Kelle/Kluge als «theoretische Sensiblisierung» bezeichnen.[316] Vor diesem Hintergrund entstanden – wiederum auf der Basis von Hettlings «Erlebnisraum»-Konzept – zwei Beobachtungsfokusse, die den Forschungsprozess kanalisierten: Wie nehmen die Besuchenden das Denkmal wahr? Inwiefern werden Auseinandersetzungen mit dem Ort sichtbar und welcher Art sind sie?

Neben der Frage der Strukturierung stellte sich bei der systematischen Beobachtung auch diejenige der Partizipation. An sich wäre eine Teilnahme des Forschenden an individuellen Rütlibesuchen denkbar gewesen, dennoch sprachen im Wesentlichen zwei Gründe dagegen. Zum einen war es nicht erforderlich, grundsätzliches Wissen über das beforschte soziale Feld zu generieren.[317] Zum anderen, auch wenn eine partizipative Begehung praktisch möglich gewesen wäre, hätte sie wohl den in der Regel wortlosen, privaten und auch politisch grundierten Besuch gestört. Deshalb erfolgte die Beobachtung ohne Interaktion mit dem Feld und ohne dessen Wissen, beobachtet zu werden. Gleichzeitig ergab sich daraus eine statische – anstelle einer dynamischen – Vorgehensweise. Ein Rütli-Rundgang führt zu mehreren inszenierten Stellen, die sich aufgrund der Besuchsfrequenz als Beobachtungsposten eignen: die Schiffstation, der Schwurplatz und die Rütliwiese. Um die schriftliche Fixierung der Beobachtungen zu erleichtern, entstand im Verlauf der Vorstudie ein Beobachtungsplan, welcher die drei Beobachtungsposten mit Verhaltenstypologien (Anschauen, Verstehen, sonstiges Handeln), verhaltensbezogenen Objekten (Info-Tafel, Reiseführer etc.) sowie Zeitdauer kombinierte. Bereits die ersten Versuche zeigten, dass die verfügbare Beobachtungszeit nicht reichte, um die Eindrücke kriterial vollständig zu verschriftlichen. Für die Hauptuntersuchung wurde deshalb der Plan auf zwei Ebenen reduziert: auf die quantitative Erfassung allgemeiner Verhaltensweisen sowie auf offene, detaillierte Beobachtungen (Feld «Notizen»; Darstellung 9).

Darstellung 9 In der Hauptuntersuchung blieben der Beobachtungsort und das - фото 5

Darstellung 9

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