Sowohl die aktuelle Rütli-Broschüre von Wiget als auch der heutige Internetauftritt enthalten gleichermassen Text wie Bild. Die vorgenommene Analyse beschränkte sich auf die Titelseiten der Broschüren, eine Inhaltsanalyse der Texte entfiel. Zu diesem Entscheid trugen drei Überlegungen bei. Erstens bestehen diese Texte zu grossen Teilen aus sich wiederholenden Narrationen zur Rütli-Geschichte; einzig die Bedeutungszuschreibungen des Orts dürften sich unterscheiden, beeinflusst vom jeweiligen historischen Kontext. Zweitens umfasst die detaillierte Reiseführer-Analyse vergleichbares Datenmaterial, und drittens führten auch forschungspragmatische Überlegungen zeitlicher Art zu diesem Entscheid.
2.2.7 Kommerzielle Darstellungen
Erst ist jüngerer Zeit ist Werbung als ökonomisch-kulturelle Praxis zum Gegenstand breiterer kulturgeschichtlicher Forschung geworden; nur wenige Studien haben auf ihren geschichtskulturellen Gehalt, ja auf die darin enthaltenen nationalen Identifikationsmuster fokussiert.[240]
Für den schweizerischen nationalmythologischen Kontext hat Kreis darauf hingewiesen, dass sich die politische und kommerzielle Werbung vor allem der Gestalt des Tells – aufgrund ihres höheren symbolischen Werts – bedient, nur selten jedoch der drei Ur-Eidgenossen, geschweige denn des Rütlis.[241] Die intensiven Recherchen in Zeitungsarchiven führten dennoch zu einem Zufallsfund, einer französischsprachigen Werbeanzeige von 1939.[242] Darin preist ein führendes Möbelhaus eine komplette Wohnunseinrichtung an, die den Namen «Rutli» trägt. Dieses Angebot exemplifiziert kulturgeschichtlich das Konzept der Gesamtausstattung (als Aussteuer), ein Angebot, das die untere gesellschaftliche Schicht, Arbeiterinnen und Arbeiter sowie kleine Angestellte, in der ersten Jahrhunderthälfte nachfragten.[243] Gleichzeitig kann die Namensgebung der Wohnungseinrichtung als Ausdruck der zeitgenössisch wirksamen «Geistigen Landesverteidigung» gelesen werden, die gerade auch den Wohnalltag durchdrang. Im Rahmen der «Landi», der grossen Landesausstellung von 1939, konnten die Besuchenden eine Reihe von Modellwohnungen und -zimmer besichtigen, die sich stilistisch an einer nationalisierten Moderne mit traditionsgebundenen Elementen und heimischen Rohstoffen orientierten.[244]
2.2.8 Pressefotografie und übrige Bilder
Wie bereits in Kapitel 2.1.1kurz erwähnt, basiert die Untersuchung der Gedenkfeiern, einer Ausprägung der kollektiven Praxis, auf Bildern, insbesondere auf Pressebildern. Darunter sind Fotografien zu verstehen, die zum Zweck der Publikation in Zeitungen oder Zeitschriften hergestellt werden oder die in einem anderen Kontext, sei es für Kunst- oder Wissenschaftsprojekte, entstehen.[245] Als besonders ergiebige Quelle erwies sich das Archiv von Keystone, der grössten Schweizer Bildagentur. Weitere Bilder fanden sich in den Online-Archiven der systematisch analysierten Zeitungen gemäss Kapitel 2.3.2sowie in den Archivbeständen der SGG in Form von Presse-Clippings. Die auf diese Weise zusammengetragene Stichprobe setzt in den 1930er-Jahren ein, wird in der Nachkriegszeit farbig und verdichtet sich gegen Ende des Jahrhunderts. Diese Kontinuität ermöglicht es, die Feiern unter ritualtheoretischem Fokus zu untersuchen und Aussagen zu der jeweiligen Ausgestaltung und Bedeutung der Feier zu generieren. Schliesslich halfen weitere Fotobestände, Zustand und Veränderung des Denkmals zu erkennen und nachzuzeichnen. Sie sind in verschiedenen Archiven verteilt, besonders interessante Aufnahmen liegen im Staatsarchiv des Kantons Uri sowie in verschiedenen Online-Archiven (ETH Zürich, Museum für Kommunikation, Schweizerisches Nationalmuseum).
Für die Bildanalyse existieren zahlreiche methodische Ansätze. Je nach Bildgattung und Fragestellung sind entsprechende Methoden resp. eine Methodenkombination angezeigt.[246] Die für das vorliegende Projekt hilfreichen Bildinterpretationsverfahren werden nachfolgend kurz vorgestellt und auf ihre projektspezifische Eignung hin fokussiert.
Es ist die Kunstgeschichte, die im Bereich der Bild- und Architekturinterpretation über eine lange Tradition verfügt. Bis heute grundlegend für praktisch alle Bildinterpretationen – im engeren Sinn – bleiben die Arbeiten von Erwin Panofsky.[247] Sie erfuhren wesentliche Erweiterungen, vor allem durch den ikonischen Ansatz Max Imdahls.[248] Diese Verfahren werden im folgenden Absatz ausgeführt und ergänzt durch ihre sozialwissenschaftliche Weiterentwicklung.[249]
Panofsky postuliert in seinem kulturanthropologischen Modell das Vorhandensein von drei Bedeutungsschichten in bildnerischen und architektonischen Kunstwerken und stellt zugleich ein methodisches Vorgehen bereit, um diese Schichten zu interpretieren.[250] In der «vor-ikonografischen Beschreibung» werden die primären Sujets, das heisst die natürlichen, reinen Formen beschrieben und in ihren gegenseitigen Beziehungen identifiziert. Die «ikonografische Analyse» fokussiert auf die sekundären Sujets, das heisst auf die Beschreibung und Identifizierung von Themen und Konzepten, denen eine konventionale Bedeutung zukommt. Diese Ebene ist methodisch insofern unsicherer, als sie beim Interpreten voraussetzt, dass er mit bestimmten Themen, Vorstellungen und Gegenständen vertraut ist und sein Verständnis einer Vermutung, ja einer Unterstellung gleichkommen kann. Als «ikonologische Interpretation» bezeichnet Panofsky schliesslich die eigentliche Bedeutungszuweisung. Die aus der «vor-ikonografischen Beschreibung» und der «ikonografischen Analyse» gewonnenen Formen, Motive etc. stellen jetzt «Manifestationen zugrundeliegender Prinzipien» dar: Kunstwerke können als symptomatisch für die Persönlichkeit des Künstlers, einer bestimmten religiösen Einstellung oder der zeitgenössischen Kultur verstanden werden.[251] Solche Deutungen basieren wesentlich auf dem interpretierenden Subjekt und dessen Wissen, Haltung und Disposition. Der so verstandene, implizite Deutungsgehalt – der dem Künstler selbst unbekannt sein kann – korrespondiert mit dem von Ralf Bohnsack postulierten Dokumentsinn resp. mit dem sich dokumentierenden Wesenssinn, nunmehr zu verstehen als Habitus des Bildproduzenten, des abbildenden und des abgebildeten Bildproduzenten.[252]
Imdahl seinerseits nimmt Panofskys Wesensinn auf, stellt nun aber die einzigartige Bedeutung des Bildes ins Zentrum, das heisst das singuläre Deutungspotenzial eines Bildes, «eines nach immanenten Gesetzen konstruierten und in seiner Eigengesetzlichkeit evidenten Systems».[253] Hier scheint Imdahls kategoriale Begriffsdefinition eines Bildes durch, das er als Darstellung kennzeichnet, dessen «Bestandteile eine integrale Komposition erzeugen».[254] Es ist diese zentrale Setzung, die Eigenlogik von Bildern, die auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften als fundamental und erkenntnisleitend aufgefasst wird.[255] Sie meint die anschauliche Bilderfahrung, die über das Wiedererkennen und Wissen hinaus durch das «sehende Sehen»[256] neue Erkenntnishorizonte zu erschliessen vermag. Imdahl weist Formen und Kompositionen ein deutlich grösseres Gewicht bei, da sich deren Funktion nicht darin begrenzen soll, nur die Gegenständlichkeit und ihre ikonografische Narration darzustellen («wiedererkennendes Sehen»). Entscheidend ist das «sehende Sehen» resp. das «formale Sehen», das nicht von einzelnen Formen und Gegenständen ausgeht, sondern in einem ersten Schritt auf die Gesamtkomposition achtet. Schliesslich – wiederum im Unterschied zu Panofskys Ikonologie – rekurriert Imdahl mit seinem ikonischen Ansatz nicht auf textliches Vorwissen, sondern setzt direkt an jenem Punkt an, den Panofsky als vor-ikonografische Schicht bezeichnet, bei der formalen Komposition also.
Imdahl unterscheidet drei Dimensionen der Formalstruktur, der Bildsyntax.[257] Während die perspektivische Projektion Gegenstände und Personen in ihrer Räumlichkeit und Körperlichkeit identifiziert sowie die Sichtweise des abbildenden Bildproduzenten und seine Weltanschauung aufzeigt, beschreibt die planimetrische Ganzheitsstruktur die formale und allenfalls auch farbkompositorische Konstruktion in der Fläche. Die szenische Choreografie schliesslich konzentriert sich auf die sozialen Szenerien. Gerade hier kommt der Simultaneität, dem zeitlichen und räumlichen Nebeneinander in einem Bild, Bedeutung zu. Denn sie ist nicht zufällig: Der abbildende und abgebildete Bildproduzent wählt – wenn auch unbewusst – aus. Fotografieren beispielsweise hat also selektiven, konstruktiven Charakter. Dabei lässt sich dieser Interpretationszugang nicht nur auf soziale Interaktion, sondern auf jegliche Bildinhalte anwenden. Gerade die Offenheit und Breite prädestiniert dieses Schema dazu, als Analysefolie zu dienen für die fotografischen Rütli-Repräsentationen, Objektansichten und inszenierte Szenen.
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